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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Was ist neu

Justizkritik durch einen Rechtsanwalt und Art. 10 EMRK – Ottan gegen Frankreich

Holger Hembach · 26. April 2018 ·

Strafprozess stoßen oft auf öffentliches Interesse – und in einigen Fällen werden sie auch über die Medien geführt. Das kann es mit sich bringen, dass Rechtsanwälte Gerichte kritisieren. Die Frage, welchen Grenzen sie dabei unterliegen, hat vor kurzem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt.

Der Beschwerdeführer war ein französischer Rechtsanwalt. Er hatte in einem Strafprozess die Familie eines jungen Mannes vertreten, der von einem Polizisten erschossen worden war. Gemeinsam mit dem Schützen waren zwei weitere Polizeibeamte angeklagt, denen vorgeworfen wurde, im Ermittlungsverfahren gelogen zu haben, um ihren Kollegen zu schützen.

Das Gericht trennte das Verfahren gegen diese beiden Beamten ab und verwies es an ein anderes Gericht.

Das Hauptverhandlung gegen den Polizisten, der geschossen hatte, dauerte fünf Stunden. An ihrem Ende beantragte der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren (aus den Materialien, die dem EGMR vorlagen, ging nicht hervor, ob es sich dabei um eine Bewährungsstrafe handeln sollte).

Das Gericht sprach den Polizisten frei.

Nach der Verhandlung stellten Journalisten den Rechtsanwälten, die am Verfahren teilgenommen hatten, unmittelbar vor dem Verhandlungssaal Fragen. Der Beschwerdeführer sagte zunächst, die Art wie das Urteil von den Opfern und der sozialen Gruppe, der sich angehörten, aufgefasst werde, sei dramatisch für den sozialen Frieden.

Ein Journalist fragte, ob es eine Erlaubnis zum Töten gebe. Der Beschwerdeführer antwortete: „Oh, ich weiß nicht, ob man das sagen kann. Das ist nicht notwendigerweise eine Erlaubnis zum Töten. Das ist eine Weigerung den Realitäten in diesem Land ins Gesicht zu sehen und der Existenz einer Gesellschaft mit zwei verschiedenen Geschwindigkeiten, nicht nur einer Justiz mit zwei Geschwindigkeiten, sondern wirklich einer Gesellschaft mit zwei Geschwindigkeiten, die sich auf allen Ebenen wiederfindet. Wir leben in Türmen, wir haben die Zentren der Städte getrennt, wir führen Strafverfahren durch, die für die einen mit Verurteilungen enden, für die anderen mit Freisprüchen (…).“

Auf die Frage eines Journalisten, ob er dieses Urteil erwartet oder befürchtet habe, antwortete er:

„Ich habe immer gewusst, dass es mögliche wäre. Eine weiße Jury, ausschließlich weiß, in der nicht alle sozialen Gruppen repräsentiert sind, mit, das kann man wohl sagen, einer extrem schwachen Anklage, extrem zielorientiert geführten Verhandlungen, das war der Weg zum Freispruch ein offener Weg, das ist keine Überraschung“.

Wegen dieser letzten Bemerkungen beantragte die Staatsanwaltschaft ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer. Der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer vertrat die Auffassung, die Äußerung sei noch von der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gedeckt.

Die Staatsanwaltschaft legte Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein. Das Appellationsgericht vertrat die Auffassung, die Äußerung des Rechtsanwaltes habe es an Zurückhaltung und Mäßigung fehlen lassen. Dem Rechtsanwalt komme keine Privilegierung für Äußerungen in Gerichtsverfahren zugute, denn die Äußerung sei außerhalb des Verfahrens gefallen. Die Mitglieder der Jury seien Teile des Gerichts. Der Rechtsanwalt habe seine Kritik an der Hautfarbe der Jury festgemacht. Dies habe eine rassistische Komponente. Es sei noch ein Rechtsmittel gegen den Freispruch möglich gewesen; insofern sei die Kritik auch nicht die letzte Möglichkeit gewesen. Das Gericht sprach eine Ermahnung aus, die mildeste nach dem Gesetz mögliche Disziplinarmaßnahme.

Der Beschwerdeführer legte eine Beschwerde beim EGMR ein.  Er machte geltend, die Disziplinarmaßnahme verstoße gegen seine Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.

Der EGMR stellte fest, dass die Ermahnung des Rechtsanwaltes einen Eingriff in dessen Rechte nach Art. 10 EMRK darstelle. Zu prüfen sei, ob dieser Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 gerechtfertigt sei.

Es gebe mit den Vorschriften über Disziplinarmaßnahmen gegen Rechtsanwälte eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff.

Der Eingriff in die Äußerungsfreiheit diene auch einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Ehre und Reputation anderer. Der Beschwerdeführer hatte das bestritten. Er wies darauf hin, dass der die Angehörigen des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe habe beleidigen oder kritisieren wollen. Daher könne seine Disziplinierung auch nicht ihrem Schutz dienen. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Er erkannte an, dass die Disziplinarmaßnahme, unabhängig von den Absichten des Beschwerdeführers, zumindest auf den Schutz der Reputation anderer abgezielthabe.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass Gerichtsverfahren nicht über die Medien geführt werden sollten. Er war aber der Auffassung, dass der Rechtsanwalt durch seine kritische Bemerkung die Staatsanwaltschaft habe motivieren wollen, Rechtsmittel gegen den Freispruch einzulegen. Daher habe die Äußerung auch der Vertretung seiner Mandanten gedient.

Der Gerichtshof prüfte, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Er führte aus, dass die Bemerkung des Beschwerdeführers einen Beitrag zu einer wichtigen gesellschaftlichen Debatte leiste, nämlich zu der Frage, wie die gesellschaftliche Zusammensetzung von Jurys und der Richterschaft insgesamt den Ausgang eines Verfahrens beeinflusse. Dabei verwies der Gerichtshof auf die Bemühungen Ländern wie den Niederlanden, Großbritannien oder den USA, dafür zu sorgen, dass die Zusammensetzung der Richterschaft auch die Zusammensetzung der Bevölkerung wiederspiegelt.

Der EGMR war der Auffassung, der Beschwerdeführer habe die Mitglieder des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe herabsetzen wollen. Vielmehr habe seine Bemerkung auf eine größere gesellschaftliche Diskussion über die Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in der Justiz abgezielt.  Sie füge sich ein in eine gesellschaftliche Debatte über die Justiz in einer diversen Gesellschaft.

Der Rechtsanwalt habe auch die Autorität der Justiz insgesamt nicht in Zweifel ziehen wollen. Auch wenn die verhängte Sanktion die mildeste aller möglichen Disziplinarmaßnahmen gewesen sei, sei selbst dieser Eingriff nicht gerechtfertigt gewesen.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

EGMR zur Verletzung des Rechts auf ein begründetes Urteil – Uche gegen Schweiz

Holger Hembach · 19. April 2018 ·

Art. 6 EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren. Dazu gehört nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch das Recht auf ein begründetes Urteil. Die Gerichte müssen sich mit dem Vorbringen der Parteien auseinandersetzen. Nach Auffassung des Gerichtshofs bedeutet das allerdings nicht, dass sie auf jedes rechtliche Argument der Beteiligten an einem Rechtsstreit eingehen müssen. Sie müssen sich nur mit den wesentlichen Argumenten auseinandersetzen. Welche das sind, ist oft schwer einzuschätzen. Der EGMR geht davon aus, dass Gerichte zumindest solche Argumente aufgreifen müssen, die für die Entscheidung des Rechtsstreits ausschlaggebend sind. Urteile, in denen der EGMR eine Verletzung des Rechts auf eine begründete Entscheidung feststellt, sind allerdings selten. Ein Beispiel für einen solchen Fall bildet das Urteil im Fall Uche gegen die Schweiz, das am 17.04.2018 ergangen ist.

 

Der Beschwerdeführer war in den Verdacht geraten, mit Drogen zu handeln. Die Polizei hörte sein Telefon ab. Der Beschwerdeführer führte zahlreiche Telefongespräche in verschiedenen nigerianischen Sprachen. Die Ermittlungsbehörden ließen die Gespräche übersetzen von einem externen Dolmetscher übersetzen und kamen zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer tatsächlich mit Drogen handelte. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Sie beschuldigte den Beschwerdeführer des Kaufs und Verkaufs einer Kokainmischung. Die genaue Menge sei unbekannt, betrage aber mindestens 1748,8 Gramm. Darüber hinaus beschuldigte sie ihn des Kaufs und Verkaufs einer unbekannten Menge einer Heroinmischung. Sie führte zudem aus, dass die Drogen einen Marktwert von rund 155.000 € gehabt hätten.

 

Das zuständige Gericht befand den Beschwerdeführer des Kaufs und Verkaufs von 4,4 kg Kokain und 155 g Heroin schuldig und verurteilt ihn zu 5 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe.

 

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel ein. Er machte geltend, er sei nicht hinreichend über die Vorwürfe gegen ihn belehrt worden, weil in der Anklage die genaue Menge der Drogen, um die es ging, nicht genannt worden sei. Darüber hinaus zog er die Rechtmäßigkeit des Abhörens seines Telefons in Zweifel, da ihm die Identität des Übersetzers nicht mitgeteilt worden sei.

 

Das Rechtsmittelgericht in Bern wies das Rechtsmittel zurück. Es führte aus, die Anklage habe die Menge der Drogen durch die Mindestmenge und den Kaufpreis hinreichend präzise angegeben.

 

Der Beschwerdeführer legte einen weiteren Rechtsbehelf zum Bundesgericht ein. Er machte erneute geltend, durch die Angaben in der Anklageschrift zur Menge der Drogen sei er nicht hinreichend über die Vorwürfe gegen ihn informiert worden. Außerdem führte er weiterhin an, die Beweise hinsichtlich seiner Telefongespräche seien unzulässig gewesen, weil ihm die Identität des Übersetzers nicht offengelegt worden sei. Der Übersetzer sei nicht als Experte, sondern als Zeuge anzusehen.

 

Das Bundesgericht entschied über das Rechtsmittel. Es setzte sich lediglich mit der Frage der Zulässigkeit der Abhörprotokolle auseinander. Es führte aus, ein Dolmetscher sei kein Zeuge, sondern ein Mittler, der es dem Gericht ermögliche, Beweismittel zu bewerten. Es sei aber angemessen, bestimmte Vorschriften für Zeugen auch auf Dolmetscher anzuwenden. Bei Zeugen sei es möglich, ihre Identität nur dem Gericht zu offenbaren, um sie zu schützen. Es erscheine nicht willkürlich, diese Regel entsprechend auf Dolmetscher anzuwenden. Das Gericht habe keine Zweifel an der Richtigkeit der Übersetzung.

 

Das Bundesgericht wies das Rechtsmittel zurück.

 

Der Beschwerdeführer legte eine Beschwerde beim EGMR ein.

 

Der Gerichtshof prüfte, ob das Recht auf ein begründetes Urteil verletzt worden sei. Er verwies auf seine Rechtsprechung, dass das Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich das Recht auf ein begründetes Urteil beinhalte. Die Gerichte seien nicht verpflichtet, sich mit allen Argumenten der Parteien auseinanderzusetzen. Sie müssten aber auf solche Argumente eingehen, die für den Ausgang des Rechtsstreits entscheidend sein könnten. Dies sei bei dem Argument des Beschwerdeführers, dass er nicht hinreichend über die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihn informiert worden sei, der Fall.  Der Beschwerdeführer habe hinreichend präzise dargelegt, warum er glaube, nicht ausreichend informiert worden zu sein. Er habe sich dabei ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 a) EMRK berufen. Wäre das Bundesgericht diesem Argument gefolgt, hätte es das Urteil aufheben müssen. Damit sei das Argument wesentlich für den Ausgang des Verfahrens gewesen, so dass das Bundesgericht sich damit hätte auseinandersetzen müssen. Es sei nicht Aufgabe des EGMR, Aussagen darüber zu treffen, wie das Gericht hätte entscheiden sollen. Den Ausführungen des Gerichts lasse sich aber nicht entnehmen, ob das Gericht das Argument als offensichtlich nicht stichhaltig bewertet habe, oder ob es schlicht vergessen habe, sich damit auseinanderzusetzen. Hierin liege ein Verstoß gegen das Recht auf ein begründetes Urteil nach Art. 6 EMRK.

 

 

 

Der Beschwerdeführer rügte auch in der Sache, dass sein Recht verletzt sei, über die Anklage informiert zu werden. In diesem Punkt wies der EGMR die Beschwerde zurück. Die Anklageschrift war aus Sicht des Gerichtshofs hinreichend präzise.

Kritik an der neuen spanischen Richterin am EGMR

Holger Hembach · 20. Februar 2018 ·

Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte üben ein einflussreiches Amt aus. Ihre Urteile können nicht nur dafür sorgen, dass Verfahren wieder aufgenommen werden und Beschwerdeführer Entschädigungen erhalten. Sie haben oft auch Auswirkungen auf Gesetze und politische Entscheidungen in den Vertragsstaaten der EMRK.

Dennoch stößt die Wahl von neuen Richtern am EGMR in der Regel nur auf geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Bei der Wahl der spanischen Richterin, María Elósegui, die im Januar erfolgte, ist das anders (jeder der 47 Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben, entsendet einen Richter an den Gerichtshof). Das liegt nicht in erster Linie daran, dass sie die erste weibliche Richterin ist, die für Spanien an den Gerichtshof gewählt worden ist. Es hat auch nichts damit zu tun, dass der frühere Präsident des spanischen Verfassungsgerichts, der als Favorit gehandelt worden war, scheiterte, weil er im Vorstellungsgespräche nicht in der Lage war, Fragen in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs zu beantworten. Für Aufsehen sorgte vielmehr, dass Elósegui durch Äußerungen aufgefallen waren, die nicht zu den Positionen passen, die der Gerichthof vertritt.

So scheint sie in einem Interview Homosexualität mit der Entwicklung von Krankheiten zu verknüpfen, wie die spanische Zeitung El Diario berichtet. Sie zitiert aus einem Interview mit Elósegui, das auf einer Webseite veröffentlicht wurde, die der katholischen Organisation Opus Die zugerechnet wird. Danach habe Elósegui gesagt: „Für viele sind unser biologisches Geschlecht und Gender, also die soziale Rolle, nicht miteinander verknüpft, so dass wir unsere sexuelle Identität mit dem Rücken zu unserem biologischen Geschlecht konstruieren können. In meinem Buch sehen wir, dass diese Konstruktion der Sexualität möglich ist, dank der menschlichen Freiheit und weil Menschen nicht durch die Biologie vorherbestimmt sind. Aber das wir das tun können (….) bedeutet nicht, dass die Balance positiv ist. Es wird Einfluss auf die Konstruktion der Persönlichkeit haben, so dass das Ergebnis nicht unwichtig ist. Diejenigen, die ihr Sexualverhalten entsprechend ihrem biologischen Geschlecht konstruieren und ausüben, werden ein ausgeglichenes und gesundes Verhalten entwickeln. Diejenigen, die darauf bestehen, gegen ihre Biologie anzugehen, werden bestimmte Krankheiten entwickeln. Das ist klar.“

Sie befürwortet offenbar auch die Anwendung „psychologischer und psychiatrischer Therapien“ für Transsexuelle.

Der Richterin wird daneben vorgeworfen, ihre Rolle bei der Erarbeitung des spanischen Anti-Diskriminierungsgesetzes übertrieben zu haben.

Hier geht es zu einem Artikel von Rainer Wandler in der “taz” zu dem Thema.

Hier in ein Beitrag in der “Frankfurter Rundschau”

Hier der Beitrag in El Diario

Berücksichtigung vorläufig eingestellter Tatvorwürfe bei der Strafzumessung – Verstoß gegen die Unschuldsvermutung? Bikas gegen Deutschland

Holger Hembach · 29. Januar 2018 ·

Die Strafprozessordnung ermöglicht es, Verfahren (vorläufig) einzustellen, wenn dem Beschuldigten wegen anderer Taten bereits eine erhebliche Strafe droht. Das kann im Ermittlungsverfahren geschehen, aber auch, wenn die Hauptverhandlung bereits begonnen hat. Dadurch sollen Verfahren beschleunigt und entschlackt werden. Nach deutscher Rechtsprechung dürfen Taten, die Gegenstand der eingestellten Verfahren waren, aber dennoch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, wenn es wegen der anderen Tat zur Verurteilung komme.

Es wird also gegen einen Angeklagten wegen der Taten A, B und C verhandelt. Das Gericht stellt das Verfahren wegen des Tatvorwurfs C ein. Der Angeklagte wird wegen der Taten A und B verurteilt. Bei der Bemessung der Strafe wegen dieser Taten berücksichtigt das Gericht dann noch, dass der Angeklagte ja auch noch die Tat C begangen hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verstößt das nicht gegen die Unschuldsvermutung, sofern das Gericht die Taten im Einklang mit der Strafprozessordnung festgestellt hat und sie zur Überzeugung des Tatgerichts feststehen. Dagegen reicht es nicht aus, wenn das Gericht lediglich den Verdacht hat, dass der Angeklagte die weiteren Taten begangen hat.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich nun im Fall Bikas gegen Deutschland mit der Frage befasst, ob dies im Einklang mit der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK steht.

Das Landgericht München hatte ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in mindestens 300 Fällen geführt. Nach 17 Hauptverhandlungstagen mit Beweisaufnahme erließ das Landgericht einen Beschluss, mit dem es das Verfahren wegen eines Großteilts der Taten einstellte, weil der Angeklagte wegen der anderen Taten eine erhebliche Strafe zu erwarten habe. Es beschränkte das Verfahren auf vier Vorfälle.

Das Gericht wies den (damals) Angeklagten darauf hin, dass es auch die eingestellten Tatvorwürfe bei der Strafzumessung berücksichtigen werde.

Am gleich Tag verurteilt das Landgericht den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilte. In den Urteilsgründen führte es aus, es habe die Verfahren zwar wegen zahlreicher Vorwürfe eingestellt. Es sei aber überzeugt, dass der Angeklagte in mindestens fünfzig Fällen Taten begangen habe, die denen vergleichbar seien, deretwegen er nun verurteilt werde. Das Gericht wertete das im Urteil als strafschärfend.

Der Beschwerdeführer legte erfolglos Revision ein und erhob Verfassungsbeschwerde. Danach legte er eine Beschwerde beim EGMR ein. Er machte geltend, die Berücksichtigung von Taten zu seinen Lasten, deretwegen er nicht verurteilt worden sei, verstoße gegen die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK.

Der Gerichtshof prüfte zunächst, ob Art. 6 Abs. 2 auf den Fall noch anwendbar sei. Deutschland hatte dazu in seiner Stellungnahme zu der Beschwerde geltend gemacht, die Unschuldsvermutung gelte nicht mehr. Das Gericht habe sich zu der Zeit der Einstellung bereits die Überzeugung gebildet, dass der Beschwerdeführer die fünfzig weiteren Taten, die es bei der Strafzumessung berücksichtigt habe, begangen habe.

Der EGMR wies dieses Argument zurück. Er führte aus, aus einer Reihe seiner Entscheidungen ergebe sich, dass die Unschuldsvermutung bis zur endgültigen Verurteilung anwendbar sei. Der Beschwerdeführer sei wegen der berücksichtigten Tagen angeklagt gewesen. Er sei auch darauf hingewiesen worden, dass diese Taten zu seinen Lasten berücksichtigt werden könnten.  Daher habe er immer noch unter einer „strafrechtlichen Anklage“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 gestanden, so dass die Unschuldsvermutung anwendbar sei.

Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Unschuldsvermutung nach seiner Rechtsprechung zwei Aspekte habe: Einerseits beinhalte sie, bestimmte prozessuale Garantien wie das Gebot, dass Gerichte unvoreingenommen sein müssten und verpflichtet seien, das Verfahren ohne vorgefasste Meinungen zu führen.

Andererseits folge aus Art. 6 Abs. 2 auch, dass Personen nicht als schuldig behandelt werden dürften, nachdem sie freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt worden sei. Hier sei aber zwischen Freisprüchen und Einstellungen zu unterscheiden. Nach erfolgtem Freispruch sei es nicht zulässig, wenn staatliche Stellen noch den Verdacht äußerten, dass der Betroffene schuldig sei. Dagegen sei nach einer Einstellung des Verfahrens nur eine gerichtliche Entscheidung unzulässig, aus der sich ergebe, dass der Betroffene schuldig sei.

Der EGMR wies darauf hin, dass er bereits Fälle entschieden habe, in denen Bewährungen wegen einer neuen Tat widerrufen worden seien, ohne dass der Betroffene wegen dieser Tat verurteilt worden sei. In diesen Fällen habe er eine Verletzung von Art. 6 EMRK festgestellt. Der vorliegende Fall liege aber anders. Im vorliegenden Fall seien Tatsachenfeststellungen vor dem Gericht getroffen worden, dass über die Schuld entschieden habe. Auch seien dies Aussagen durch das Gericht in einem Urteil getroffen worden, das sich mit einer Reihe gleichgelagerter Fälle auseinandersetze.

Man müsse dem prozessualen Kontext der Aussage des Gerichtes im Blick behalten. Die Einstellung sei am letzten Tag der Beweisaufnahme erfolgt, nachdem 17 Tage lang Beweis erhoben worden sei. Das Gericht habe mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es überzeugt sei, dass der Beschwerdeführer die Taten begangen habe. Es habe hohe Beweisstandards nach deutschem Recht angewandt. Es obliege den einzelnen Vertragsstaaten der EMRK, Beweisstandards zu definieren. Das Gericht haben den in Deutschland geltenden Standards entsprochen.

Auch sei zu berücksichtigen, dass Staaten nach der EMRK auf verpflichtet seien, effektive Maßnahmen gegen Sexualdelikte zu ergreifen.

Nach alledem habe es nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen, die eingestellten Taten zu Lasten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. Der Gerichtshof stellte keine Verletzung vom Art. 6 EMRK fest.

Bikas gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 76607/13, Urteil vom 25.01.2018

 

 

 

Afrikanische Menschenrechtskommission fordert Anvil Mining zu Schadensersatz wegen Unterstützung von Menschenrechtsverletzungen im Kongo auf

Holger Hembach · 14. Januar 2018 ·

Die Afrikanische Kommission für Menschen- und Völkerrechte hat das Unternehmen Anvil Mining aufgefordert, sich an den Zahlungen für Schadensersatz und Wiedergutmachung an die Opfer eines Massakers in der Demokratischen Republik Kongo zu beteiligen.

Die Anvil Mining ist ein Unternehmen, das in Australien und Kanada registriert ist. Es ist im Kongo im Bereich des Abbaus von Kupfer tätig. Im Jahre 2004 besetzte eine kleine Gruppe kurzfristig die Stadt Kilawa im Osten des Kongo. Die Gruppe hatte ca. 10 Mitglieder. Diese waren nur leicht bewaffnet und  gaben an, Mitglieder einer Rebellengruppe zu sein, deren Name bis dahin unbekannt gewesen war.  Anvil betrieb eine Kupfermine in der Nähe der Stadt Kilawa

Die kongolesische Armee (FARDC) griff die Stadt an, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Dabei übte die 62. Brigade der Armee, die den Angriff durchführte, exzessive Gewalt aus. 73 Menschen verloren ihr Leben, über 20 davon durch außergerichtliche Exekutionen. Es kam zu Plünderungen und Freiheitsberaubungen.

Nach Aussagen von Augenzeugen wurden die Soldaten der kongolesischen Armee mit Fahrzeugen der Anvil Mining in das Gebiet gebracht. Das Unternehmen bestätigte das später, unter anderem im Rahmen einer Untersuchung des Vorfalls durch die UN Mission in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC).

Die Zeugen berichteten auch, dass Fahrzeuge von Anvil Mining benutzt worden seien, um Leichen und geplünderte Güter abzutransportieren. Das Unternehmen bestritt dies.

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen mehrere Personen wegen Verstößen gegen internationales Recht. Unter den Angeklagten waren neben Soldaten auch drei Mitarbeiter von Anvil Mining. Ein Militärgericht sprach die Mitarbeiter (sowie neun weitere Angeklagte) aber frei.

Angehörige von Opfern erstatteten Strafanzeige in Australien; die Ermittlungen wurden dort aber nach dem Freispruch im Kongo eingestellt.

Daraufhin unterstützte sie 2010 eine kanadische Menschenrechtsorganisation bei der Einreichung einer Klage in Kanada, wo Anvil Mining ebenfalls registriert ist. Der Kanadische Supreme Court entschied jedoch in letzter Instanz, dass kanadische Gerichte für den Fall nicht zuständig seien.

Ebenfalls im Jahr 2010 legten Angehörige der Opfer eine Beschwerde bei der Afrikanischen Menschenrechtskommission ein. Diese entschied schließlich im Dezember 2017, dass die Demokratische Republik Kongo ihre Pflicht verletzt habe, Menschenrechte angemessen zu schützen. Die Entscheidung setzte sich auch mit der Rolle der Anvil Mining auseinander (die Entscheidung ist noch nicht veröffentlicht; es gibt bislang nur Pressemitteilungen und Berichte von Nichtregierungsorganisationen, vor allem der Organisation „Rights and Accountability in Development“ (RAID), die Angehörige der Opfer unterstützt hat.

Die Afrikanische Menschenrechtskommission konnte keine Entscheidung treffen, die für das Unternehmen direkt Rechtswirkungen hat. Denn sie ist für die Einhaltung der Afrikanischen Menschenrechtscharta sowie anderer internationaler Verträge über Menschenrechte zuständig. Diese richten sich aber immer an Staaten. Nur gegenüber Staaten begründen sie Pflichten. Dementsprechend konnte die Kommission nur eine Entscheidung fällen, die gegenüber der Demokratischen Republik Kongo wirksam war. Sie verpflichtete den Kongo zum Schadensersatz.

Gleichzeitig macht sie aber deutlich, dass die Kommission von einer Mitverantwortung von Anvil Mining ausgeht. Daher wandte sie sich nun in einem Brief an das Unternehmen und forderte es auf, sich an den Zahlungen von Schadensersatz an die Angehörigen der Opfer zu beteiligen. Die Kommission hat angekündigt, über Reaktionen von Anvil sofort zu berichten.

Der Fall wirft in mehrerlei Hinsicht ein Schlaglicht auf Probleme des internationalen Schutzes der Menschenrechte.

Einerseits beleuchtet er einmal mehr die Rolle von Unternehmen. Häufig arbeiten Regierungen und Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen Hand in Hand. Es fehlen aber rechtliche Instrumente, um Unternehmen für ihre Rolle zur Verantwortung zu ziehen. Internationale Menschenrechte binden nach derzeitigem Verständnis zur Staaten. Daher haben internationale Gerichte keine Handhabe gegen Unternehmen. Die Gerichte in den Heimatländern der Unternehmen betrachten sich als nicht zuständig und die Gerichte der Länder, in denen die Verletzungen begangen wurden sind oft anfällig für Korruption und nicht wirklich unabhängig.

Allerdings beleuchtet der Fall auch ein anderes Defizit des Menschenrechtsschutzes in Afrika: Es dauerte sieben Jahre, bis die Afrikanische Menschenrechtskommission eine Entscheidung fällte. Das, obwohl die Regierung des Kongo sich nicht am Verfahren beteiligte und obwohl die Kommission keine mündliche Verhandlung durchführte. Obwohl die Entscheidung der Kommission als Grundsatzentscheidung gilt, ist sie immer noch nicht auf der Webseite der Kommission verfügbar. Ein effektiver Schutz der Menschenrechte erfordert aber auch, dass die Kommission ihr Verfahren effektiv gestaltet und Opfer innerhalb vernünftiger Fristen zu ihrem Recht kommen.

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