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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Margin of appreciation (“Einschätzungsspielraum”)

Bedeutung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gesteht den Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei der Umsetzung der Konvention eine “margin of appreciation” zu. Der Begriff lässt sich schwer exakt ins Deutsche zu übersetzen. Er kann etwa “Einschätzungsspielraum”, “Beurteilungsspielraum” oder auch “Gestaltungsspielraum bedeuten.

Staaten, die die EMRK unterzeichnen, verpflichten sich dadurch, allen Menschen in ihrer Hoheitsgewalt die Rechte zu gewährleisten, die in der EMRK verankert sind. Die “margin of appreciation” bedeutet, dass es dabei nicht nur eine richtige Lösung gibt. Es kann vielmehr in bestimmten Fällen verschiedene staatliche Entscheidungen oder Maßnahmen geben, die im Einklang mit der EMRK sind.

Video: Was ist die “margin of appreciation?”

Die Entwicklung der “margin of appreciation” im Handyside-Urteil

Der EGMR hat die “margin of appreciation”-Doktrin im Fall Handyside gegen das Vereinigte Königreich entwickelt. Der Fall betraf ein Buch für Schüler, das unter anderem der Sexualaufklärung dienen sollte. Die britischen Behörden sahen die Inhalt als obszön und verboten den Vertrieb des Buches. Der Verleger, der das Buch in Großbritannien vertreiben wollte, legte eine Beschwerde beim EGMR ein. Er machte geltend, das Verbot des Buches verstoße gegen seine Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.

Artikel 10 EMRK lässt jedoch Beschränkungen der Äußerungsfreiheit unter bestimmten Voraussetzungen zu. Unter anderem darf dann in die Äußerungsfreiheit eingegriffen werden, wenn dies “zum Schutz der Moral” notwendig ist. Der EGMR musste sich also mit der Frage befassen, ob das Verbot des Buches in diesem Falle zum “Schutz der Moral” zulässig war.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass es in Europa kein einheitliches Verständnis davon gebe, was unter “Moral” zu verstehen sei. Vielmehr unterschieden sich die Sichtweisen dazu von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit erheblich; außerdem wandelten sie sich schnell. Die Behörden eines Staates seien aufgrund ihres direkten Kontaktes mit der Gesellschaft in einem bestimmten Land daher grundsätzlich in einer besseren Position um zu beurteilen, was Moral sei und welche Einschränkungen oder Strafen erforderlich sein könnten, um sie zu schützen. Daher sei den Staaten in diesem Bereich eine gewisse “margin of appreciation” zuzugestehen.

Allerdings sei diese “margin of appreciation” nicht unbegrenzt. Der EGMR habe die Aufgabe, sicherzustellen, dass Staaten ihre Verpflichtungen nach der EMRK einhielten. Deshalb gehe die “margin of appreciation” einher mit Aufsicht durch den Gerichtshof; es obliege letztlich dem EGMR zu beurteilen, ob Staaten sich innerhalb ihrer “margin of appreciation” bewegten oder ob sie die Grenze überschritten hätten und die EMRK verletzten.

Weitere Entwicklung

Diese Grundsätze hat der EGMR in der Folgezeit nicht nur im Zusammenhang mit der Frage angewandt, was “Moral” bedeutet. Er hat sie auf andere Fallgestaltungen und andere Rechtsfragen übertragen.

Der EGMR gesteht Staaten also bei der Umsetzung der EMRK eine “margin of appreciation” zu. Er macht den Staaten keine Vorgaben, wie sie die Rechte gewährleisten, die in der EMRK verankert sind. Die EMRK enthält eher allgemeine Grundsätze; es obliegt den Staaten, diese im Einklang mit ihren eigenen rechtlichen Traditionen und ihrer eigenen Kultur umzusetzen. Der EGMR prüft, ob sie dabei ihre “margin of appreciation” überschreiten.

Anwendungsfälle

Verhältnismäßigkeit der Beschränkung von Rechten

Die “margin of appreciation” spielt dabei eine Rolle, wenn die EMRK grundsätzlich eine Beschränkung von Rechten zulässt und sich die Frage stellt, ob eine bestimmte Beschränkung zulässig ist. Rechte, die beschränkt werden können sind beispielsweise die Äußerungsfreiheit (wie im Fall Handyside), das Recht auf Achtung vor dem Privatleben nach Art. 8 EMRK, die Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 9 EMRK) oder die Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK).

Kollision zwischen Rechten

Darüber hinaus kommt die “margin of appreciation” dann zum tragen, wenn verschiedene Rechte miteinander im Konflikt stehen. Das ist beispielsweise häufig bei presserechtlichen Auseinandersetzungen der Fall: Medien berichten über eine Person; diese macht geltend, die Berichterstattung verletze ihre Recht auf Achtung vor dem Privatleben (Art. 8 EMRK; die Presse beruft sich auf die Pressefreiheit nach Art. 10 EMRK. Hier stehen zwei Rechte, die die EMRK schützt miteinander im Konflikt.).

Der EGMR gesteht Staaten bei der Abwägung eine “margin of appreciation” zu. Allerdings geht diese auch in diesem Bereich einher mit einer Prüfung durch den EGMR; der Gerichtshof prüft dabei vor allem, ob die innerstaatlichen Gerichte die verschiedenen Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen haben. Es gibt aber dennoch viele Fälle, in denen der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK festgestellt hat, obwohl die staatlichen Gerichte eigentlich gründlich gearbeitet haben.

Ein weiters Beispiel hierfür sind Konflikte zwischen Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) einerseits un der Meinungsfreiheit andererseits. Die Meinungsfreiheit schließt das Recht ein, sich kritisch über die Religion anderer Menschen zu äußern. Die bedeutet aber nicht nur, dass jeder seine Religion frei wählen und ausüben kann. Sie zieht auch staatliche Pflichten nach sich, Menschen bei der ungestörten Ausübung ihrer Religion zu schützen. Wenn Äußerungen oder Handlungen dazu führen können, den Frieden zwischen den Religionen zu gefährden oder Menschen in ihren religiösen Gefühlen zu verletzen, kann der Schutz der Religionsfreiheit Beschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigen.

Ein Beispiel hierfür ist das Urteil des EGMR im Fall E.S. gegen Österreich. Die Beschwerdeführerin in diesem Fall (die einer rechtslastigen Partei nahestand) hatte ein Seminar zum Thema “Grundlagen des Islam” gegeben. Im Rahmen dieses Seminar äußerte sie, der Prophet Mohammed sei ein Pädophiler gewesen. Eine Journalistin, die inkognito an dem Seminar teilgenommen hatte, erstattete Strafanzeige. Die Beschwerdeführerin wurde in Österreich wegen der Äußerung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Sie legte Beschwerde beim EGMR ein und machte geltend, die Verurteilung verletze sie in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit. Der EGMR stellte aber keine Verletzung von Art. 10 fest. Er war der Auffassung, dass die Beschränkung der Meinungsfreiheit, die in der Verurteilung lag, gerechtfertigt sei. Die Religionsfreiheit könne solche Eingriffe in die Meinungsfreiheit rechtfertigen. Staaten stehe bei der Abwägung zwischen den in Rede stehenden Rechten eine “margin of appreciation” zu.

Positive Pflichten

Aus der Europäischen Menschenrechtskonvention können sich sogenannte “positive Pflichten” ergeben. Das bedeutet, dass der Staat nicht nur Eingriffe in Rechte unterlassen muss; er kann vielmehr verpflichtet sein, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass Personen in seiner Hoheitsgewalt in den Genuss der Rechte kommen, die die EMRK garantiert.

Der EGMR räumt Staaten dabei eine “margin of appreciation” wenn sie entscheiden, welche Schritte sie ergreifen, um den Schutz der Rechte zu gewährleisten und wie weit der Schutz gehen soll.

Auch hier bedeutet die “margin of appreciation” aber nicht, dass Staaten freie Hand hätten. Vielmehr prüft der EGMR, ob sie die “margin of appreciation” überschritten haben.

Ein Beispiel: Art. 2 EMRK schützt das Recht auf Leben. Daraus ergeben sich positive Pflichten; Staaten können verpflichtet sein, aktiv Maßnahmen zu treffen, um das Leben von Menschen in ihrer Hoheitsgewalt zu schützen. Natürlich können sie ihre Bürger nicht gegen jedes Risiko und jede Gefahr vollständig schützen. Bei der Beurteilung, gegen welche Risiken Schutz erforderlich ist und welche Maßnahmen sie dazu treffen, haben sie eine “margin of appreciation”. Diese kann jedoch überschritten sein.

Ein Beispiel: In einem Fall gegen Rumänien war eine Frau von streunenden Hunden auf der Straße angefallen und tödlich verletzt worden. Ihre Angehörigen brachten den Fall zum EGMR. Sie machten geltend, Rumänien hätte angemessene Maßnahmen zum Schutz der Bürger vor streunenden Hunden ergreifen können.

Der EGMR stellte eine Verletzung der EMRK fest. Rumänien habe eine margin of appreciation wenn es um den Schutz des Lebens ginge. Er wies aber darauf hin, dass die Gefahr, die in Bukarest von streunenden Hunden ausging, schon lange bekannt gewesen sei. Rumänien habe deshalb seine “margin of appreciation” überschritten, als es keine Maßnahmen getroffen habe, um die Gefahr einzudämmen.

Ausblick

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist überlastet. Deshalb haben eine Reihe von Konferenzen stattgefunden, bei denen die Zukunft des Gerichtshofs und mögliche Reformen diskutiert wurden. Eine der Empfehlungen, die sich aus den Diskussionen ergab, war eine Stärkung der “margin of appreciation”.

Diese Empfehlung wurde im 15. Protokoll aufgenommen. Es nimmt ausdrücklich Bezug auf die “margin of appreciation” und empfiehlt eine Stärkung des Prinzips.

Das Protokoll wird in Kraft treten, wenn alle Vertragsstaaten der EMRK es ratifiziert haben. Fehlen nur noch wenige Ratifikationen.

Rechtsanwalt Holger Hembach