Dürfen Arbeitnehmer öffentlich auf Missstände in einem Unternehmen hinweisen? Wie Spiegel online in einem kürzlich erschienenen Artikel ausführt, ist das rechtlich schwer zu beurteilen. Der Berliner Rechtsanwalt Hans-Georg Meyer weist jedoch in dem Artikel darauf hin, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dieser Frage bereits einmal mit einem Fall gegen Deutschland beschäftigt hat. Im Fall Heinisch gegen BR Deutschland stellte der Gerichtshof fest, dass die Entlassung einer Altenpflegerin, die auf Misstände in einem Altenheim hingewiesen hatte, gegen die Äusserungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK verstiess.
In Fall Matuz gegen Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Rechtsprechung zur Frage von Beschränkungen der Meinungsfreiheit von Angestellten erneut zusammengefasst.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer war ein ungarischer Fernsehjournalist. Er war bei einem staatlichen Sender angestellt gewesen und hatte eine Sendung moderiert, die sich mit dem kulturellen Leben in Ungarn befasste. Gleichzeitig war der Beschwerdeführer im Vorstand einer Gewerkschaft von Journalisten.
Sein Arbeitsvertrag verbot es ihm, Informationen weiterzugeben, die er im Rahmen seiner Tätigkeit erlangt hatte und die nachteilig für Dritte sein könnten. Für Verstösse gegen dieses Verbot sah der Vertrag die fristlose Kündigung vor.
Der Fernsehsender, für den der Beschwerdeführer arbeitete, stelle einen neuen Kulturdirektor an. Kurze Zeit später wandte sich der Beschwerdeführer in einem Brief an den Präsidenten des Fernsehsenders und beklagt sich über Massnahmen des Kulturdirektors, die er als Zensur empfand. Der Brief wurde nie beantwortet. Auch der Chefredakteur der Sendung, die der Beschwerdeführer moderierte beschwerte sich gegenüber dem Aufsichtsrat des Senders über Zensurmassnahmen.
Eine online-Zeitschrift berichtete über den Brief des Beschwerdeführers und über seine Kritik an angeblichen Zensurmassnahmen.
Der Beschwerdeführer veröffentlichte ein Buch, das Passagen aus Interviews enthielt, die nie ausgestrahlt worden waren – nach Darstellung des Beschwerdeführers aufgrund von Interventionen des Kulturdirektors. Ausserdem enthielt das Buch Auszüge aus Briefwechseln zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kulturdirektor sowie die Meinung des Beschwerdeführers über Zensur und Beschränkungen der Berichterstattung in dem Sender.
Nach Erscheinen des Buches wurde der Beschwerdeführer fristlos entlassen. Der Arbeitgeber stützte die Kündigung auf die Vertragsklausel, die eine fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses zuliess, wenn der Beschwerdeführer beruflich erlangte Informationen weitergab und dadurch Dritten Schaden zufügte. Der Beschwerdeführer setzte sich vor ungarischen Gerichten gegen die Kündigung zur Wehr, aber seine Klage wurde in allen Instanzen abgewiesen. Die ungarischen Gerichte stützten sich auf die Vertragsklausel und eine Vorschrift des ungarischen Arbeitsrechtes, die bei Anwendung derartiger Klauseln eine sofortige Entlassung erlaubte. Fragen der Äusserungsfreiheit erörteten die Gerichte in ihren Urteilen nicht.
Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf eine Verletzung auf eine Verletzung von Artikel 10 EMRK (Äusserungsfreiheit).
Rechtliche Bewertung
Die ungarische Regierung machte geltend, es läge überhaupt kein Eingriff in die Äusserungsfreiheit vor. Das Buch des Beschwerdeführers sei schliesslich veröffentlicht worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies dieses Argument zurück. Die Entlassung des Beschwerdeführers sei eine negative Folge der Verbreitung von Informationen. Daher liege ein Eingriff in die Äusserungsfreiheit vor.
Der EGMR wandte sich der Frage zu, ob dieser Eingriff nach Artikel 10 Absatz 2 EMRK gerechtfertigt war. Er stellte kurz fest, dass es eine ausreichende gesetzliche Grundlage gegeben hatte und erkannte an, dass die Entlassung einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Reputation anderer gedient hatte.
Dann prüfte der Gerichtshof ausführlicher, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Er unterstrich die fundamentale Bedeutung der Meinungs- und Äusserungsfreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft, wies aber gleichzeitig auch darauf hin, dass Arbeitnehmer ihrem Arbeitnehmer eine gewisse Solidarität und Zurückhaltung schulden.
Der EGMR bekräftigte seine bisherige Rechtsprechung, derzufolge bei der Abwägung zwischen diesen beiden Kriterien die folgenden Faktoren zu berücksichtigen sind:
- das öffentliche Interesse an der Weitergabe der Information
- der Wahrheitsgehalt der Information
- die Motivation hinter der Offenbarung der Information
- die Frage, ob die Veröffentlichung der Information die letzte Möglichkeit war
- der Schaden, der durch die Information eingetreten ist
- die Schärfe der Sanktion, die dem Beschwerdeführer auferlegt worden ist
Der Gerichtshof stellte fest, dass es ein öffentliches Interesse gebe zu erfahren, ob in einem Fernsehsender Zensur stattfinde. Die Wahrheit der Behauptungen des Beschwerdeführers in seinem Buch sei nie bestritten worden. Auch sei der Beschwerdeführer nicht von selbstsüchtigen Motiven geleitet worden. Er habe sich zunächst vergeblich in Briefen an den Präsidenten des Senders gewandt, um auf die Massnahmen, die er als Zensur empfand, hinzuweisen. Der eingetretene Schaden war nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gering. Auch wenn es eine Beeinträchtigung der Reputation des Senders gegeben habe, sei die Information nicht neu gewesen, da bereits zuvor eine online-Publikation darüber berichtet habe. Schliesslich sei die fristlose Entlassung eine sehr einschneidende Sanktion.
Der EGMR hielt es auch für bedeutsam, dass sich die ungarischen Gerichte bei ihrer Beurteilung des Falles überhaupt nicht mit der Bedeutung der Meinungsäusserungsfreiheit auseinandergesetzt hätten. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Artikel 10 EMRK fest.
Matuz gegen Ungarn, Urteil vom 21.10.2014, Beschwerde Nr. 73571/10