• Zur Hauptnavigation springen
  • Skip to main content
The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

  • Beschwerden beim EGMR
  • Rechtsanwalt
  • EMRK
    • Artikel 8 EMRK
    • Artikel 10 EMRK
    • Recht auf Eigentum nach Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK
    • Margin of appreciation (“Einschätzungsspielraum”)
    • Was unterscheidet die EMRK von der EU-Grundrechtecharta?
    • Was ist die EU Grundrechte-Charta?
  • Kosten
  • Blog
  • Buch
  • Kontakt
  • Show Search
Hide Search

Unschuldsvermutung

EGMR: Auferlegung der Verfahrenskosten verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung – Demjanjuk gegen Deutschland

Holger Hembach · 27. Februar 2019 ·

Sachverhalt:

Der Fall findet seinen Ursprung in einer Beschwerde der Amerikaner Frau Vera Demjanjuk und ihrem Sohn John Demjanjuk (im Folgenden V.D und J.D.) gegen die Bundesrepublik Deutschland. Das Münchener Landgericht II hatte entschieden, die notwendigen Auslagen des verstorbenen angeklagten John Demjanjuk (Ehemann und Vater der Beschwerdeführer) nicht zu erstatten. Die Beschwerdeführer sahen in dieser Entscheidung einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 II EMRK. Das Berufungsgericht verwarf die Beschwerde gegen die Entscheidung aufgrund fehlender Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführer. Darin sahen die Beschwerdeführer wiederrum einen Verstoß gegen ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Am 12 Mai 2011 wurde John Demjanjuk vom Münchener Landgericht II, nach 91 Prozesstagen wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen verurteilt. Demjanjuk hatte in seiner Position als Wachmann im polnischen Konzentrationslager Sobibor, zwischen dem 27. März und dem September 1943, systematisch bei den Morden an Juden geholfen. Das Urteil wurde jedoch nicht rechtskräftig, da sowohl Staatsanwaltschaft und Verteidigung Revision einlegten. John Demjanjuk verstarb am 17. März 2012.

Am 5. April 2012 entschied das Landgericht das Verfahren einzustellen und die notwendigen Auslagen des Angeklagten nicht zu erstatten. Das Gericht berief sich in dieser Entscheidung auf §§206a Abs. 1 und 467 Abs. 2 Nr.2 der deutschen Strafprozessordnung. §206a Abs. 1 erlaubt es dem Gericht, ein Verfahren einzustellen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht. Der Tod eines Angeschuldigten, stellt offensichtlich ein solches Verfahrenshindernis dar. Nach §467 Abs.  2 Nr.2 kann ein Gericht, wenn ein Angeschuldigter wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht, davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen. Dieses Ermessen darf von dem Gericht jedoch nur ausgeübt werden, wenn ein auf die bisherige Beweisaufnahme der ausgesetzten Hauptverhandlung gestützter erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei einer neuen Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen würden. (BGH 3 StE 7/94 – 1 (2) (StB 1/99)) Es muss also klar sein, dass ohne das Verfahrenshindernis (vorliegend nun mal der Tod des Angeklagten) der angeklagte John Demjanjuk verurteilt worden wäre.

Der Anwalt des Verstorbenen, legte Revision gegen das Urteil des Landgerichts ein. Unter anderem mit der Begründung, dass eine Nichterstattung der Kosten des Angeklagten gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK verstoße. In der Entscheidung, die Kosten nicht zu erstatten könnte ein Schuldspruch liegen. Das vorherige Urteil des Landgerichts (s.o.) sei nie rechtskräftig geworden, da Staatsanwaltschaft und Verteidigung dagegen in Revision gingen. Dies führt dazu, dass der Angeklagte bis zu seinem Tod nicht endgültig verurteilt und damit für schuldig befunden wurde. Nach Art. 6 Abs. 2 EMRK gilt ein Angeklagter solange als unschuldig bis seine Schuld gesetzlich bewiesen ist.

Am 17. April 2012 stellten die Beschwerdeführer dem Anwalt des Verstorbenen Vollmachten aus.

Anfang Oktober 2012 verwarf das Münchener Berufungsgericht die Berufung als unzulässig aufgrund von fehlender Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführer V.D. und J.D. Die Beschwerdebefugnis könne nur der Angeklagte innehaben.  Außerdem hielt das Berufungsgericht die Berufung für unbegründet, da die Entscheidung des Münchener Landgerichts, die notwendigen Auslagen des verstorbenen Angeklagten nicht zu erstatten, nicht notwendigerweise einen Schuldspruch enthalte.

Am 18 Dezember 2014 nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.  

 

Rechtliche Beurteilung: 

Der EGMR prüfte den Fall im Hinblick auf eine Verletzung des in Art. 6 I genannten Rechts auf Zugang zu einem und auf eine Verletzung der in Art. 6 Abs. 2 genannten Unschuldsvermutung.

Der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK soll darin gelegen haben, die Berufung der Beschwerdeführer nicht zuzulassen. Der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK darin, dass den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen des Angeklagten nicht erstattet wurden, obwohl dies von Art. 6 II EMRK verlangt werde.

Der EGMR räumte ein, dass die Entscheidung des Gerichts die Berufung aufgrund fehlender Beschwerdebefugnis nicht zuzulassen,  abstrakt betrachtet, Art. 6 Abs. 1 EMRK widersprechen könnte. Allerdings müsse betont werden, dass die Berufung außerdem vom Berufungsgericht als unbegründet beurteilt wurde und somit der Fall von dem Gericht in seiner Gesamtheit betrachtet worden ist. Dies führt dazu, dass die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf Zugang zu einem Gericht Art. 6 I EMRK verletzt wurden.

Eine Verletzung der Unschuldsvermutung dem. Art. 6 Abs. 2 EMRK lehnte der EGMR ebenfalls ab. Im Kontext des vorliegenden Falles muss ganz klar zwischen einem dringendem Tatverdacht und einen Schuldspruch unterschieden werden. Während ein Schuldspruch die Unschuldsvermutung verletzen würde, tut ein Tatverdacht dies jedoch nicht. Die Entscheidung des Landgerichts beruhte lediglich auf einem Tatverdacht gegen den Angeklagten nicht auf einem Schuldspruch.

Weder das Recht auf gerichtliches Gehör, noch die Unschuldsvermutung sind somit in irgendeiner Weise verletzt worden.

 

 

Berücksichtigung vorläufig eingestellter Tatvorwürfe bei der Strafzumessung – Verstoß gegen die Unschuldsvermutung? Bikas gegen Deutschland

Holger Hembach · 29. Januar 2018 ·

Die Strafprozessordnung ermöglicht es, Verfahren (vorläufig) einzustellen, wenn dem Beschuldigten wegen anderer Taten bereits eine erhebliche Strafe droht. Das kann im Ermittlungsverfahren geschehen, aber auch, wenn die Hauptverhandlung bereits begonnen hat. Dadurch sollen Verfahren beschleunigt und entschlackt werden. Nach deutscher Rechtsprechung dürfen Taten, die Gegenstand der eingestellten Verfahren waren, aber dennoch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, wenn es wegen der anderen Tat zur Verurteilung komme.

Es wird also gegen einen Angeklagten wegen der Taten A, B und C verhandelt. Das Gericht stellt das Verfahren wegen des Tatvorwurfs C ein. Der Angeklagte wird wegen der Taten A und B verurteilt. Bei der Bemessung der Strafe wegen dieser Taten berücksichtigt das Gericht dann noch, dass der Angeklagte ja auch noch die Tat C begangen hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verstößt das nicht gegen die Unschuldsvermutung, sofern das Gericht die Taten im Einklang mit der Strafprozessordnung festgestellt hat und sie zur Überzeugung des Tatgerichts feststehen. Dagegen reicht es nicht aus, wenn das Gericht lediglich den Verdacht hat, dass der Angeklagte die weiteren Taten begangen hat.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich nun im Fall Bikas gegen Deutschland mit der Frage befasst, ob dies im Einklang mit der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK steht.

Das Landgericht München hatte ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in mindestens 300 Fällen geführt. Nach 17 Hauptverhandlungstagen mit Beweisaufnahme erließ das Landgericht einen Beschluss, mit dem es das Verfahren wegen eines Großteilts der Taten einstellte, weil der Angeklagte wegen der anderen Taten eine erhebliche Strafe zu erwarten habe. Es beschränkte das Verfahren auf vier Vorfälle.

Das Gericht wies den (damals) Angeklagten darauf hin, dass es auch die eingestellten Tatvorwürfe bei der Strafzumessung berücksichtigen werde.

Am gleich Tag verurteilt das Landgericht den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilte. In den Urteilsgründen führte es aus, es habe die Verfahren zwar wegen zahlreicher Vorwürfe eingestellt. Es sei aber überzeugt, dass der Angeklagte in mindestens fünfzig Fällen Taten begangen habe, die denen vergleichbar seien, deretwegen er nun verurteilt werde. Das Gericht wertete das im Urteil als strafschärfend.

Der Beschwerdeführer legte erfolglos Revision ein und erhob Verfassungsbeschwerde. Danach legte er eine Beschwerde beim EGMR ein. Er machte geltend, die Berücksichtigung von Taten zu seinen Lasten, deretwegen er nicht verurteilt worden sei, verstoße gegen die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK.

Der Gerichtshof prüfte zunächst, ob Art. 6 Abs. 2 auf den Fall noch anwendbar sei. Deutschland hatte dazu in seiner Stellungnahme zu der Beschwerde geltend gemacht, die Unschuldsvermutung gelte nicht mehr. Das Gericht habe sich zu der Zeit der Einstellung bereits die Überzeugung gebildet, dass der Beschwerdeführer die fünfzig weiteren Taten, die es bei der Strafzumessung berücksichtigt habe, begangen habe.

Der EGMR wies dieses Argument zurück. Er führte aus, aus einer Reihe seiner Entscheidungen ergebe sich, dass die Unschuldsvermutung bis zur endgültigen Verurteilung anwendbar sei. Der Beschwerdeführer sei wegen der berücksichtigten Tagen angeklagt gewesen. Er sei auch darauf hingewiesen worden, dass diese Taten zu seinen Lasten berücksichtigt werden könnten.  Daher habe er immer noch unter einer „strafrechtlichen Anklage“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 gestanden, so dass die Unschuldsvermutung anwendbar sei.

Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Unschuldsvermutung nach seiner Rechtsprechung zwei Aspekte habe: Einerseits beinhalte sie, bestimmte prozessuale Garantien wie das Gebot, dass Gerichte unvoreingenommen sein müssten und verpflichtet seien, das Verfahren ohne vorgefasste Meinungen zu führen.

Andererseits folge aus Art. 6 Abs. 2 auch, dass Personen nicht als schuldig behandelt werden dürften, nachdem sie freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt worden sei. Hier sei aber zwischen Freisprüchen und Einstellungen zu unterscheiden. Nach erfolgtem Freispruch sei es nicht zulässig, wenn staatliche Stellen noch den Verdacht äußerten, dass der Betroffene schuldig sei. Dagegen sei nach einer Einstellung des Verfahrens nur eine gerichtliche Entscheidung unzulässig, aus der sich ergebe, dass der Betroffene schuldig sei.

Der EGMR wies darauf hin, dass er bereits Fälle entschieden habe, in denen Bewährungen wegen einer neuen Tat widerrufen worden seien, ohne dass der Betroffene wegen dieser Tat verurteilt worden sei. In diesen Fällen habe er eine Verletzung von Art. 6 EMRK festgestellt. Der vorliegende Fall liege aber anders. Im vorliegenden Fall seien Tatsachenfeststellungen vor dem Gericht getroffen worden, dass über die Schuld entschieden habe. Auch seien dies Aussagen durch das Gericht in einem Urteil getroffen worden, das sich mit einer Reihe gleichgelagerter Fälle auseinandersetze.

Man müsse dem prozessualen Kontext der Aussage des Gerichtes im Blick behalten. Die Einstellung sei am letzten Tag der Beweisaufnahme erfolgt, nachdem 17 Tage lang Beweis erhoben worden sei. Das Gericht habe mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es überzeugt sei, dass der Beschwerdeführer die Taten begangen habe. Es habe hohe Beweisstandards nach deutschem Recht angewandt. Es obliege den einzelnen Vertragsstaaten der EMRK, Beweisstandards zu definieren. Das Gericht haben den in Deutschland geltenden Standards entsprochen.

Auch sei zu berücksichtigen, dass Staaten nach der EMRK auf verpflichtet seien, effektive Maßnahmen gegen Sexualdelikte zu ergreifen.

Nach alledem habe es nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen, die eingestellten Taten zu Lasten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. Der Gerichtshof stellte keine Verletzung vom Art. 6 EMRK fest.

Bikas gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 76607/13, Urteil vom 25.01.2018

 

 

 

Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK und Widerruf der Bewährung

Holger Hembach · 24. November 2015 ·

Welche Bedeutung hat die Unschuldsvermutung, wenn ein Gericht eine Bewährung wegen einer neuen Tat widerrufen möchte? Mit dieser Frage hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall El Kaada gegen BR Deutschland auseinandergesetzt.

Das deutsche Strafrecht sieht vor, dass Gefängnisstrafen unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden können. Das bedeutet, dass der Angeklagte zwar verurteilt wird, tatsächlich aber seine Freiheitsstrafe nicht antreten muss. Vielmehr kann er über einen bestimmten Zeitraum, den das Gericht bestimmt, beweisen, dass er in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen (Bewährungszeit). Begeht der Verurteilte in dieser Zeit keine neuen Straftaten, muss er seine Freiheitsstrafe endgültig nicht verbüssen. Wenn er allerdings eine neue Straftat begeht, kann  die Bewährung widerrufen werden. Der Verurteilte muss also die ursprüngliche Freiheitsstrafe antreten – und kann darüber hinaus natürlich weiterhin wegen der neuen Straftat belangt werden, die er in der Bewährungszeit begangen hat.

Regelungen über die Bewährung gibt es sowohl im Erwachsenenstrafrecht als auch im Jugendstrafrecht. Bei Erwachsenen können Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Verhängt das Gericht eine Strafe von bis zu einem Jahr, ist die Strafausetzung zur Bewährung die Regel; bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren müssen besondere Umstände vorliegen, die die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen (§ 56 StGB). Für Jugendliche findet sich eine parallele Regelung im § 21 JGG.

Im Fall  El Kaada gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage auseinandergesetzt, welche Anforderungen an die Feststellung der neuen Straftat zu stellen sind, derentwegen die Bewährung widerrufen werden soll.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde zunächst durch das Amtsgericht Gladbeck wegen verschiedener Straftaten wie Körperverletzung, Diebstahl und Untreue zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Amtsgericht wendete Jugendstrafrecht an; die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht machte dem Beschwerdeführer zur Auflage, keine weiteren Straftaten zu begehen und gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte das Gericht darüber, dass er den Beschwerdeführer auch bezüglich der Bewährung weiterhin vertreten werde.

Einige Monate wurde erneut ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Diebstahls geführt. Das Amtsgericht Gladbeck erliess einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Er wurde verhaftet und am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt.

Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte die Staatsanwaltschaft, dass er den Beschwerdeführer in dem Ermittlungsverfahren vertrete. Der Brief des Anwalts ging am gleichen Tag bei der Staatsanwaltschaft ein, an dem der Beschwerdeführer dem Haftrichter vorgeführt wurde. Bei der Vernehmung des Beschwerdeführers durch den Haftrichter war der Anwalt nicht anwesend.

Der Beschwerdeführer gestand gegenüber dem Haftrichter den Diebstahl und äusserte sich auch zu Einzelheiten der Tat.

Kurz darauf widerrief er das Geständnis bei einem Haftprüfungstermin in Anwesenheit seines Anwalts. Er erklärte, er hätte das Geständnis nur abgelegt, weil ein Polizist ihm gesagt habe, bei einem Geständnis würde er nicht in Untersuchungshaft kommen.

Zwei Tage später widerrief das Amtsgericht die Bewährung. Zur Begründung führte es aus, dem Beschwerdeführer sei zur Auflage gemacht worden, keine neuen Straftaten zu begehen. Dennoch habe der Beschwerdeführer einen Diebstahl begangen. Dies ergebe sich aus seinem Geständnis.

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen den Widerruf der Bewährung ein. Er brachte unter anderem das Argument vor, es verstosse gegen die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK, wenn die Bewährung wegen einer Tat widerrufen werde, für die er noch nicht verurteilt worden sei.

Das Landgericht liess sich davon aber nicht überzeugen. Nach seiner Auffassung war der Widerruf der Bewährung gerechtfertigt. Der Widerruf wegen einer neuen Straftat setze nicht voraus, dass der Betroffene wegen dieser Straftat rechtskräftig verurteilt worden sei. Vielmehr könne das zuständige Gericht sich auch mit anderen Mitteln davon überzeugen, dass eine neue Straftat begangen worden sei. Es reiche aus, wenn der Betroffene die Straftat vor einem Richter gestanden habe. Die Unschuldsvermutung stehe dem nicht entgegen. Sie gelte nur in Strafverfahren gegen den Betroffenen; wenn es um den Widerruf der Bewährung gehe, sei sie dagegen nicht anwendbar.

Das Gericht führte aus, es hege keine Zweifel an der Richtigkeit des ursprünglichen Geständnisses, zumal der Beschwerdeführer sich auch zu Einzelheiten der Tat geäussert habe und diese Einzelheiten zu dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen gepasst hätten.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Daraufhin legte der Beschwerdeführer Menschenrechtsbeschwerde ein.

 

Rechtliche Beurteilung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte klar, dass die Unschuldsvermutung – entgegen der Auffassung des Landgericht – nicht nur auf Strafverfahren gegen einen Beschuldigten anwendbar sei. Die Unschuldsvermutung sei ein wesentlicher Bestandteil eines fairen Verfahrens und diene dazu, vorverurteilende Aussagen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zu verhindern. Artikel 6 Absatz 2 EMRK schütze den Beschuldigten umfassend davor, durch staatliche Stellen ausdrücklich oder implizit als schuldig dargestellt zu werden. Daher sei die Unschuldsvermutung immer dann verletzt, wenn offizielle Stellen ausdrücklich sagten oder den Eindruck erweckten, dass eine Person einer Straftat schuldig sei, bevor diese Person verurteilt worden sei.

Das Amtsgericht und das Landgericht hätten die Bewährung widerrufen, weil der Beschwerdeführer eine neue Straftat begangen habe. Damit hätten sie den Beschwerdeführer schon vor seiner Verurteilung als schuldig behandelt. Dies verletzte die Unschuldsvermutung.

Damit bestätigte der EGMR die Grundsätze, die er bereits im Urteil Böhmer gegen Deutschland beschrieben hatte. Die Bundesregierung führte aus, der Fall Böhmer habe anders gelegen. Dort habe es sich um einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach Erwachsenenstrafrecht gehandelt. Im vorliegenden Fall gehe es dagegen um den Widerruf bei einem Jugendlichen nach § 26 JGG.

Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Nach Auffassung des Gerichtshofs bestehe sachlich kein Unterschied zwischen dem Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Tat im Erwachsenstrafrecht und im Jugendstrafrecht.

Nach Auffassung des EGMR war der Widerruf auch nicht durch das Geständnis des Beschwerdeführers gerechtfertigt. Der Gerichtshof verwies darauf, dass der Beschwerdeführer das Geständnis in Abwesenheit seines Rechtsanwaltes abgelegt hatte und es später im Beisein seines Verteidigers widerrufen hatte. Jedenfalls deshalb konnte der Widerruf der Bewährung nach Auffassung des EGMR nicht auf das Geständnis gestützt werden.

Im Ergebnis hat der EGMR also unterstrichen, dass ein Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Straftat voraussetzt, dass der Beschuldigte wegen dieser Straftat verurteilt worden ist.

Urteil vom 12.11.2015, Beschwerde Nr. 2130/10

Hinweis auf Schuld in den Urteilsgründen trotz Freispruchs – Cleve g. BR Deutschland

Holger Hembach · 4. Februar 2015 ·

Im Fall Cleve gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Reichweite der Unschuldsvermutung auseinandergesetzt. Das Urteil ist auch deshalb interessant, weil das Bundesverfassungsgericht den Fall erst gar nicht zur Entscheidung angenommen hatte. Im Wesentlichen ging es in dem Urteil um die Frage, ob ein Gericht gegen die Unschuldsvermutung verstösst, wenn es einen Angeklagten zwar freispricht, aber in der Begründung des Urteils zu erkennen gibt, dass der Angeklagte wahrscheinlich eine Straftat begangen habe.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war Vater einer Tochter. Nach der Trennung von seiner Frau hatte diese in wegen sexuellen Missbrauchs des  Kindes angezeigt.  Die Tochter wurde zweimal von der Polizei vernommen und von einem Psychologen untersucht, der ein Gutachten über ihre Glaubwürdigkeit erstellte.

Der Beschwerdeführer wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 15 Fällen und Missbrauchs einer Schutzbefohlenen angeklagt.

Die Anklage wurde zugelassen und das Landgericht Münster sprach den Beschwerdeführer nach fünf Verhandlungstagen wegen Mangels an Beweisen frei.

In der Urteilsbegründung führte das Gericht aus, dass der Beschwerdeführer nur durch die Aussage seiner Tochter belastet worden sei.  Das Gericht sei aber aufgrund der Zeugenaussage der Tochter nicht überzeugt, dass die Vorwürfe, die in der Anklage erhoben worden seien, vollständig korrekt seien – vor allem in Hinblick auf eine klare Definition der Straftaten und eine genaue Feststellung des Zeitraums, in dem sie stattgefunden hätten.  Das Gericht führte aus: „So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist. Die Taten liessen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren.“

Das Urteil wurde rechtskräftig. Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein, weil durch die Begründung des Urteils zum Ausdruck komme, dass er Straftaten begangen habe und dadurch die Unschuldsvermutung verletzt werde. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde nicht zur Entscheidung an und der Beschwerdeführer erhob Menschenrechtsbeschwerde.

Rechtslage:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte den Fall im Hinblick auf die Unschuldsvermutung, die in Artikel 6 Absatz 2 EMRK verankert ist. Dieser lautet:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

Die erste Frage, die der EGMR zu beantworten hatte, war die, ob sich die Unschuldsvermutung auch auf die Urteilsgründe erstreckt. Die Bundesrepublik Deutschland hatte geltend gemacht, die Unschuldsvermutung betreffe lediglich die Entscheidung über Verurteilung oder Freispruch. Sie besage, dass ein Angeklagter freigesprochen werden müsse, wenn seine Schuld nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden sei.  Dies habe das Landgericht Münster getan. Auf die Urteilsbegründung finde dagegen Artikel 6 Absatz 2 EMRK keine Anwendung.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies dieses Argument zurück. Die Unschuldsvermutung besage, dass keine staatliche Stelle den einen Beschuldigten als schuldig behandeln dürfe, solange seine Schuld nicht bewiesen sei – weder vor noch nach einem Urteil. Damit gelte die Unschuldsvermutung auch für die Begründung eines Urteils.

Der EGMR wandte sich dann der Frage zu, ob die Urteilsgründe des Landgerichts Münster gegen diese Grundsätze verstossen hätten. Er erkannte an, dass ein Gericht begründen müsse, wie es zu seinem Urteil gekommen sei. Dabei habe ein Gericht auch das Recht, bestehende Zweifel darzulegen. Es dürfe dabei aber nicht so weit gehen, den Angeklagten bei einem Freispruch in den Urteilsgründen de facto doch als schuldig zu bezeichnen. Nach Auffassung des EGMR kommt es also auf die Formulierung im Einzelfall und den Kontext an, wann die Unschuldsvermutung verletzt ist.

Der EGMR führte aus, dass das Landgericht Münster nicht lediglich auf bestehende Zweifel hingewiesen habe. Vielmehr habe es seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass der Beschwerdeführer einen Kindesmissbrauch begangen habe. Hierin lag in den Augen des EGMR eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Der EGMR wies dabei auch auf die negativen Folgen hin, die die Formulierung in den Urteilsgründen beispielsweise für Verfahren über das Sorgerecht haben könnte.

Zur englischen Version des Beitrags geht es hier

Cleve gegen BR Deutschland, Urteil vom 15.01.2015, Beschwerde Nr. 48144/09

Rechtsanwalt Holger Hembach

  • Datenschutzerklärung
  • Impressum