• Zur Hauptnavigation springen
  • Skip to main content
The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

  • Beschwerden beim EGMR
  • Kosten
  • Rechtsanwalt
  • Blog
  • Lexikon der EMRK
  • Buch
  • Kontakt
  • Show Search
Hide Search

Sterbehilfe

Bundesverwaltungsgericht zum Recht auf Abgabe einer Droge zur Selbsttötung

Holger Hembach · 19. Mai 2017 ·

Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass man unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Zugang zu einem tödlichen Mittel zur Selbsttötung haben kann. Der Entscheidung lag der Fall Koch gegen Deutschland zugrunde, mit dem sich bereits der EGMR auseinandergesetzt hatte (eine Zusammenfassung des Urteils gibt es hier).

Die Presse hatte bereits über das Urteil berichtet; unter anderem hat sich die FAZ sehr kritisch zum Urteil geäußert (der Beitrag findet sich hier; er ist hinter einer paywall). Damals lagen die schriftlichen Urteilsgründe aber noch nicht vor. Inzwischen sind sie auf der Homepage des Bundesverwaltungsgerichts veröffentlicht.

Sachverhalt:

Die Frau des Klägers war vom Hals an abwärts gelähmt gewesen. Sie war auf ständige Pflege angewiesen und erlitt häufig Krampfanfälle, die mit starken Schmerzen verbunden waren. Aussicht auf Besserung gab es nach einhelliger Meinung ihrer Ärzte nicht. Sie empfand ihr Leben als würdelos und wollte sich selbst töten. Daher beantragte sie beim Bundesamt für Arzneimittel, ihr 15 g Natrium-Pentobarbital zur Verfügung zu stellen. Dieses Mittel ermöglicht eine schmerzlose Selbsttötung. Das Bundesamt für Arzneimittel lehnte den Antrag ab. Sowohl die Frau als auch der Kläger legten Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Die Frau des Klägers reiste in die Schweiz, wo sie ihrem Leben ein Ende bereitete.

Das Bundesamt für Arzneimittel wies den Widerspruch des Klägers als unzulässig zurück. Dieser klagte gegen den Bescheid. Das Verwaltungsgericht bestätigte jedoch die Entscheidung. Der Kläger könne nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Daher sei er nicht zur klagebefugt. Die Berufung wurde nicht zugelassen. Der Kläger legte Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht erklärte die Beschwerde für unzulässig. Der Kläger sei nicht klagebefugt; er könne sich nicht auf das postmortale Persönlichkeitsrecht seiner Frau berufen.

Der Kläger legte eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Dieser stellte eine Verletzung des Rechts auf Privatleben nach Art. 8 EMRK fest. Die Gerichte hätten sich mit der Klage des Klägers inhaltlich auseinandersetzen müssen. Nach der Entscheidung des EGMR beantragte der Kläger ein Wiederaufnahmeverfahren. Diesmal prüfte das Verwaltungsgericht inhaltlich, ob die Frau des Klägers einen Anspruch auf eine Dosis Natrium-Pentobarbital gehabt habe. Es verneinte dies jedoch erneut.

Nachdem das Oberverwaltungsgericht diese Entscheidung bestätigt hatte, legte der Kläger Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Rechtliche Bewertung:

Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass Verweigerung der Erlaubnis, Natrium-Pentobarbital zu erwerben, rechtswidrig gewesen war.

Die Frau des Klägers habe zum Erwerb des mittels grundsätzlich einer Erlaubnis bedurft. § 5 des Betäubungsmittelgesetzes sehe vor, dass die Erlaubnis erteilt werden dürfe, wenn die Abgabe der Substanz der medizinischen Versorgung der Bevölkerung diene. Danach könnten Betäubungsmittel dann abgegeben werden, wenn sie zu medizinischen Zwecken benötigt würden. Deshalb sei die Abgabe zum Zwecke der Selbsttötung grundsätzlich ausgeschlossen. Denn die Selbsttötung gehöre nicht zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung.

Es sei aber zu berücksichtigen, dass die Vorenthaltung eines Mittels zur Selbsttötung in grundrechtlich geschützte Rechte eingreife. Schwer und unheilbar kranke Menschen hätten ein Recht, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden solle. Das beschränke sich nicht auf das Endstadium tödlicher Krankheiten. Es gelte auch für andere schwer kranke Menschen. Dabei berief sich das Bundesverwaltungsgericht nicht nur auf die verfassungsrechtliche Literatur in Deutschland, sondern auch auf mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht (beispiielsweise das Urteil im Fall Gross gegen Schweiz und Haas gegen Deutschland)

Dieses Recht werde beeinträchtigt, wenn die Möglichkeit, tödliche Substanzen zur Selbsttötung zu erwerben, ausgeschlossen würde. Im Fall der Frau des Klägers sei in ihr grundrechtlich geschütztes Recht eingegriffen worden, weil ihr der Zugang zu dem Mittel verweigert worden sei.

Das Verbot der Abgabe tödlicher Substanzen müsse deshalb im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden. Diese Auslegung ergebe, dass der Erwerb eines Mittels zur Selbsttötung möglich sein müsse, wenn sich der Betroffene wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befinde.

Eine solche extreme Notlage liege unter drei Voraussetzungen vor:

– wenn die  schwere und unheilbaren Erkrankung mit starken Schmerzen verbunden sei, die nicht ausreichend gelindert werden könnten;

– wenn der Betroffene sich frei und ernsthaft entschieden habe, sein Leben zu beenden und

– ihm keine andere zumutbare Möglichkeit zur Verfügung stehe, den Sterbewunsch zu verwirklichen.

Der Staat dürfe dem Betroffenen keine Pflicht zum Weiterleben auferlegen.

Das Bundesamt für Arzneimittel hätte deshalb nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts die beantragte Erlaubnis nicht ablehnen dürfen, ohne näher zu prüfen, ob diese Voraussetzungen vorlägen. Vor allem hätte das Bundesamt prüfen müssen, ob die Frau eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches gehabt hätte.

Über das Urteil berichtet auch die Süddeutsche Zeitung hier

Bitte beachten Sie auch den Beitrag “Der EGMR und das Recht auf Sterbehilfe”

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 02.03.2017 (Az: BVerwG 3 C 19.15)

 

Die EMRK und das Recht auf Sterbehilfe

Holger Hembach · 4. November 2015 ·

In demokratischen Gesellschaften ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Recht auf Leben Schutz geniesst. Dagegen herrscht keine Einigkeit darüber, ob und unter welchen Umständen es ein Recht darauf gibt, das eigene Leben unter menschenwürdigen Umständen zu beenden – oder durch anderen beenden zu lassen. Diese Frage wird in Deutschland im Rahmen der Diskussion über ein Gesetz zur Sterbehilfe wieder lebhaft diskutiert.  Es ist keine Überraschung, dass sie auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits mehrfach beschäftigt hat.

Die Europäische Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht überwacht, enthält keine Vorschrift über ein Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung. Allerdings haben Antragsteller in einigen Fällen versucht, ein derartiges Recht aus anderen Bestimmungen der Konvention herzuleiten.

Einer der bekanntesten Fälle ist dabei der Fall Pretty gegen Grossbritannien. Er betraf eine Frau, die unter einer unheilbaren, fortschreitenden Lähmung litt. Sie aufgrund der Krankheit bereits seit längerer Zeit vom Hals abwärts ab gelähmt und es war bekannt, dass die Lähmung in absehbarer Zeit auch ihre Atemwege ergreifen und schliesslich zum Erstickungstod führen würde. Um diese Qualen zu vermeiden, wollte sie ein Mittel zur schmerzlosen Selbsttötung nehmen. Da sie jedoch körperlich nicht mehr zur Einnahme in der Lage war, bat sie ihren Mann um Hilfe. Allerdings ist die Hilfe zur Selbsttötung in Grossbritannien eine Straftat. Der Ehemann der Beschwerdeführerin fürchtete deshalb strafrechtliche Konsequenzen. Er bat die Staatsanwaltschaft um eine Bestätigung, dass sie ihn nicht anklagen würde. Die Staatsanwaltschaft weigerte sich und die Beschwerdeführerin brachte den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie argumentierte, der britische Staat sei verpflichtet, ihrem Mann Straffreiheit zuzusichern und so ihren schmerzlosen Tod zu ermöglichen.

Sie berief sich dabei zunächst auf Artikel 2 der EMRK, der das Recht auf Leben garantiert. Dies mag auf den ersten Blick seltsam anmuten. Aber die Beschwerdeführerin argumentierte wie folgt: Jedes Recht hat auch eine negative Seite. Das heisst, es gibt einem auch die Freiheit, das Recht nicht auszuüben. Beispielsweise bedeutet Versammlungsfreiheit, dass man an Demonstrationen teilnehmen kann – man muss es aber nicht. Man hat also die Freiheit, das Recht nicht auszuüben.  Konsequenterweise, so das Argument der Beschwerdeführerin, muss auch das Recht auf Leben ebenfalls das Recht beinhalten, nicht mehr leben zu müssen, wenn man das Leben als Qual empfindet.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte liess sich davon nicht überzeugen. Aus dem Recht auf Leben lässt sich nach seiner Auffassung seiner Meinung kein Recht herleiten, bei der Selbsttötung unterstützt zu werden.

Darüber hinaus berief sich die Beschwerdeführerin auf Artikel 3 der EMRK, der Folter verbietet. Es ist anerkannt, dass dieser Artikel es nicht nur Staaten untersagt, Bürger zu foltern oder unmenschlich zu behandeln, sondern sie auch verpflichtet, Massnahmen zu treffen, um Folter zu verhindern. Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass der qualvolle Tod, der ihr durch die Lähmung ihrer Atemwege bevorstehe, Folter gleichkomme. Der Staat habe es in der Hand, ihr diese Qualen zu ersparen, indem er ihrem Mann Straffreiheit für die Hilfe zur Selbsttötung zusichere. Hierzu sei der Staat verpflichtet, weil er nach Artikel 3 EMRK Folter verhindern müsse.

Der EGMR wies dieses Argument zurück. Er führte aus, es bestehe zwar eine Verpflichtung, Folter zu verhindern. Die Konvention müsse jedoch in ihrer Gesamtheit interpretiert werden. Sie sei darauf angelegt, Leben zu schützen und könne deshalb nicht so verstanden werde, dass sie Staaten verpflichte, eine Tötung zu ermöglichen.

Ein weiteres Argument, dass die Antragstellerin geltend machte, betraf Artikel 8 der EMRK, der das Recht auf Privatleben regelt. Der EGMR interpretiert den Begriff „Privatleben“ sehr weit. Er umfasst nicht nur einen geschützten Bereich, sondern schützt die persönliche Autonomie. Die Beschwerdeführerin argumentierte, wenn sie nach Artikel 8 EMRK ein Recht habe, autonom zu leben, so müsse sie auch das Recht haben, autonom zu sterben.

Auch diesem Argument folgte der Gerichtshof nicht. In Grossbritannien gebe es ein Gesetz, das die Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stelle. Derartige Gesetze seien in Europa nicht unüblich; Staaten hätten ein Ermessen, ob sie derartige Gesetze erlassen wollten. Sie verstiessen damit nicht gegen die EMRK.

Im Ergebnis hat der EGMR also entschieden, dass sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention kein Recht ergibt, Hilfe zur Selbsttötung zu bekommen. Daran hat der Gerichtshof auch in anderen Entscheidungen festgehalten, die sich mit dem Recht auf Sterbehilfe auseinandersetzen. Allerdings gibt es Urteile, die das Recht auf Sterbehilfe betreffen und in denen der EGMR eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat. Allerdings betrafen diese Urteile nicht das eigentliche Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung, sondern andere Aspekte, die damit im Zusammenhang stehen: Im Fall Gross gegen Schweiz wollte eine Frau, die sich alt und gebrechlich fühlte, ihrem Leben ein Ende machen. Sie versuchte deshalb, sich ein Mittel zu beschaffen, das ihr ein Sterben ohne Schmerzen ermöglichen würde. Um dieses Mittel zu erhalten, bedurfte es in der Schweiz einer Genehmigung. Die zuständigen Behörden verweigerten diese Genehmigung; die Beschwerdeführerin zog vor Gericht, aber das Schweizer Bundesgericht bestätigte die Entscheidung der Behörden, das Mittel nicht auszugeben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass die Regelungen über die Abgabe tödlicher Mittel in der Schweiz nicht hinreichend klar waren. Dieser Mangel an Klarheit verletzte nach Auffassung des Gerichtshofes die Rechte der Bürger. Damit stellt der Gerichtshof zwar eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention fest, umging aber gleichzeitig eine Entscheidung der eigentlichen Frage, ob die Schweiz nach der EMRK zur Abgabe des Mittels verpflichtet war.

Auch im Fall Koch gegen Deutschland liess der Gerichtshof die Frage nach dem Recht auf Sterbehilfe unbeantwortet: Die Frau des Beschwerdeführers litt unter einer kompletten Lähmung und wollte ihrem Leben ein Ende bereiten. Sie stellte einen Antrag, eine ausreichende Dosis eines bestimmten Mittels zu erhalten, mit dem sie sich schmerzfrei umbringen könnte. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Die Frau des Beschwerdeführers reiste daraufhin in die Schweiz und beging dort Suizid. Ihr Mann verfolgte dennoch eine Klage weiter, die die Eheleute gegen die Weigerung der Behörden eingeleitet hatten, ihr das Mittel zu geben. Diese Klage wurde mit der Begründung abgelehnt, dass der Ehemann nicht befugt sei, die Klage zu verfolgen, weil es nicht um seine eigenen Rechte gehe.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied nicht über die Frage, ob die Ehefrau ein Recht auf das Mittel gehabt hatte. Er sah allerdings eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers darin, dass die deutschen Gerichte sich in der Sache nicht mit der Klage des Mannes auseinandergesetzt hatten, sondern sie als unzulässig abgewiesen hatten.

Fazit: Der EGMR hat sich bereits in mehreren Urteilen mit Fällen auseinandergesetzt, die das Recht auf Sterbehilfe enthalten. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass sich dieses Recht nicht aus der EMRK herleiten lässt.

 

Pretty gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 29.04.2002, Beschwerde Nr. 2346/02

Klares gesetzliches Regelwerk für Hilfe zur Selbsttötung – Gross gegen Schweiz

Holger Hembach · 10. Juni 2013 ·

Im Fall Gross g. Schweiz hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erneut mit einer Beschwerde auseinandergesetzt, die ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten wollte.
Die Frage, ob das Recht auf Privatleben auch ein Recht des Individuums umfasst, das eigene Leben zu beenden, ist dem EGMR schon in früheren Fällen vorgelegt worden. In Pretty g. Vereinigtes Königreich war die Beschwerdeführerin eine Frau, die an einer tödlichen Krankheit litt. In ihrem Endstadium führt diese Krankheit zu einer Lähmung der Muskeln des Atemsystems, so dass der Patient an Erstickung stirbt. Die Beschwerdeführerin sah dies als einen qualvollen und würdelosen Tod an und wollte sie ihrem Leben vorher ein Ende setzen. Da sie selbst physisch bereits nicht mehr in der Lage war, dies zu tun, versuchte sie von der Staatsanwaltschaft eine Zusicherung zu erlangen, dass ihr Ehemann nicht strafrechtlich belangt werden würde, wenn er sie bei ihrer Selbsttötung unterstütze. Die Staatsanwaltschaft weigerte sich, die gewünschte Erklärung abzugeben.
Die Beschwerdeführerin wandte sich an den EGMR. Sie machte geltend, dass das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK das Recht beinhalte, das eigene Leben zu beenden und dass die Weigerung der britischen Behörden, die gewollte Erklärung abzugeben, eine Verletzung dieses Rechtes darstelle. Der Gerichtshof führte aus, dass Autonomie das Konzept sei, das Artikel 8 EMRK zugrunde liege. Er wollte nicht ausschliessen, dass die britische Gesetzeslage es der Antragstellerin unmöglich machte, ihr Leben zu beenden, einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellte. Der EGMR befand allerdings, dass dieser Eingriff nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK gerechtfertigt war. Er führte aus, dass die britischen Gesetze, die Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen, die Interessen besonders verletzlicher oder schwacher Menschen schützen sollten, was notwendig sei, um das herausragend wichtige Recht auf Leben zu schützen. Aufgrund dieser Überlegungen gelangte der Gerichtshof zu der Auffassung, dass das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK nicht verletzt sei.
 
In Haas gegen die Schweiz stellte der Gerichtshof ebenfalls keine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Der Beschwerdeführer litt seit über 20 Jahren an einer psychiatrischen Erkrankung. Er wollte seinem Leben ein Ende setzen. Zu diesem Zweck versuchte er, sich eine Dosis Pentobarbital zu verschaffen, die einen sicheren Tod ohne Schmerzen herbeiführen würde. In der Schweiz ist diese Substanz (im Einklang mit internationalen vertraglichen Verpflichtungen der Schweiz) nur auf Rezept erhältlich. Der Beschwerdeführer war nicht in der Lage gewesen, das notwendige Rezept zu beschaffen und argumentierte, dass die Bestimmungen, die ihn daran hinderten, Sodium Pentobarbital zu beschaffen, sein Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletzten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterschied diesen Fall vom eben erwähnten Fall Pretty g. Vereinigtes Königreich. Er führte aus, dass der Antragsteller – anders als im Fall Pretty – nicht unter einer tödlichen Krankheit litt. Ein weiterer Unterschied sei, dass der Antragsteller keine Hilfe zur Selbsttötung unter Zusicherung von Straffreiheit begehrte. Vielmehr behauptete er, dass die Schweiz nach der EMRK verpflichtet sei, ihm eine tödliche Dosis der gewünschten Substanz zur Verfügung zu stellen. Der Gerichtshof wies dieses Argument zurück. Er verwies auf die internationale Verpflichtung der Schweiz, Sodium Pentobarbital nur gegen Rezept verfügbar zu machen.

 

 

Ausserdem wies der EGMR darauf hin, dass es unter den Europäischen Staaten keinen Konsens dahingehend gebe, dass Staaten verpflichtet seien, Selbsttötungen möglich zu machen. Im Hinblick auf den Beurteilungsspielraum, den die Vertragsstaaten bei der Umsetzung der Konvention geniessen, sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Artikel 8 EMRK als nicht verletzt an.

 
Der Fall Gross g. Schweiz betraf ein ähnliches Begehren. Die Antragstellerin wurde 1931 geboren. Sie litt nicht an einer tödlichen Krankheit, aber ihr  Gesundheitszustand hatte sich im Lauf der Jahre immer weiter verschlechtert und sie war sehr geschwächt. Sie war nicht in der Lage zu längeren Spaziergängen und jede Veränderung ihrer Umwelt ängstigte sie. Da sie ihr Leben als zunehmend monoton und leidvoll empfand, hatte sie einen starken Todeswunsch entwickelt. Nach einem Selbsttötungsversuch war sie psychiatrisch behandelt worden, was jedoch nichts an ihrem Wunsch geändert hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ein Psychiater hatte bestätigt, dass ihre Urteilsfähigkeit trotz ihres körperlich angegriffenen Zustandes nicht eingeschränkt war.
Sie wandte sich schriftlich an verschiedene Ärzte und versuchte, eine tödliche Dosis Sodium Pentobarbital zu erhalten. Die Ärzte hatten dies jedoch aus Angst vor Strafverfolgung und aus ethischen Gründen abgelehnt. Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin beim Schweizer Gesundheitsamt, eine entsprechende Dosis der Substanz zu erhalten. Ihr Antrag wurde zurückgewiesen. Sie focht diese Entscheidung gerichtlich an. Das Schweizer Bundesgericht urteilte in letzter Instanz, dass die Weigerung, der Beschwerdeführerin Sodium Pentobarbital zur Verfügung zu stellen, rechtmässig war.
Es bezog sich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Falle Pretty g Vereinigtes Königreich und führte aus, dass Artikel 8 EMRK keine Pflicht der Staaten mit sich bringen, Bürger zur Selbsttötung in die Lage zu versetzen. Das Schweizer Bundesgericht betonte, dass das Erfordernis eines Rezeptes für Sodium Pentobarbital notwendig war, weil es Bürger vor überhasteten und unüberlegten Entscheidungen schütze.
Die Antragstellerin argumentierte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Vorenthaltung von Sodium Pentobarbital, das ihr einen schmerzlosen Tod ermöglichen würde, ihr Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletze.
Nach Schweizer Recht ist Beihilfe zur Selbsttötung nur dann strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts werden Ärzte für die Abgabe von Sodium Pentobarbital nicht strafrechtlich verfolgt, wenn sie bestimmte Regeln einhalten. Diese Regeln leitet das Schweizer Bundesgericht aus den Regeln und Prinzipien ab, die eine Nichtregierungsorganisation veröffentlicht hat. Danach dürfen Ärzte ein Rezept für Sodium Pentobarbital für Patienten ausstellen, die unter einer Krankheit leiden, die nach medizinischer Erfahrung zum Tode führen wird.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte die Beschwerde im Hinblick auf positive Verpflichtungen, die sich aus Artikel 8 EMRK ergeben. Er betonte, dass das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung ein Prinzip ist, das dem Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK zugrunde liegt.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass das Schweizer Bundesgericht in seinen Entscheidungen auf Richtlinien verwies, die von nichtstaatlichen Akteuren erarbeitet und veröffentlicht worden waren und keinen Gesetzesstatus hatten. Der EGMR führte auch aus, dass diese Richtlinien eine Voraussetzung für die Ausstellung eines Rezeptes aufstellten, für die es keine Grundlage im Schweizer Recht gab – nämlich, dass die Patienten eine tödliche   Krankheit haben mussten. Der Gerichtshof folgerte, dass dies ein Element der Unsicherheit war, das Durchaus geeignet sein könnte, Ärzte von der Ausstellung von Rezepten abzuhalten; tatsächlich hatten zwei Ärzte die Ausstellung eines Rezeptes abgelehnt.
Diese Unsicherheit im Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen Ärzte Rezepte ausstellen konnten war, nach Ansicht des EGMR, dazu angetan, Bürger in einen Zustand der Sorge und Unsicherheit zu versetzen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Der EGMR war der Ansicht, dass die Schweiz ihre  positiven Verpflichtung verletzt hätte, klare Richtlinien für die Abgabe von Sodium Pentobarbital zu erlassen. Er stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Das Urteil besagt allerdings nicht, dass Artikel 8 EMRK ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung beinhaltet.
 
Gross gegen Schweiz, Kammerurteil vom 14.05.2013, Beschwerde Nr. 67810/10
 

 

 

Rechtsanwalt Holger Hembach