Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass man unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Zugang zu einem tödlichen Mittel zur Selbsttötung haben kann. Der Entscheidung lag der Fall Koch gegen Deutschland zugrunde, mit dem sich bereits der EGMR auseinandergesetzt hatte (eine Zusammenfassung des Urteils gibt es hier).
Die Presse hatte bereits über das Urteil berichtet; unter anderem hat sich die FAZ sehr kritisch zum Urteil geäußert (der Beitrag findet sich hier; er ist hinter einer paywall). Damals lagen die schriftlichen Urteilsgründe aber noch nicht vor. Inzwischen sind sie auf der Homepage des Bundesverwaltungsgerichts veröffentlicht.
Sachverhalt:
Die Frau des Klägers war vom Hals an abwärts gelähmt gewesen. Sie war auf ständige Pflege angewiesen und erlitt häufig Krampfanfälle, die mit starken Schmerzen verbunden waren. Aussicht auf Besserung gab es nach einhelliger Meinung ihrer Ärzte nicht. Sie empfand ihr Leben als würdelos und wollte sich selbst töten. Daher beantragte sie beim Bundesamt für Arzneimittel, ihr 15 g Natrium-Pentobarbital zur Verfügung zu stellen. Dieses Mittel ermöglicht eine schmerzlose Selbsttötung. Das Bundesamt für Arzneimittel lehnte den Antrag ab. Sowohl die Frau als auch der Kläger legten Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Die Frau des Klägers reiste in die Schweiz, wo sie ihrem Leben ein Ende bereitete.
Das Bundesamt für Arzneimittel wies den Widerspruch des Klägers als unzulässig zurück. Dieser klagte gegen den Bescheid. Das Verwaltungsgericht bestätigte jedoch die Entscheidung. Der Kläger könne nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Daher sei er nicht zur klagebefugt. Die Berufung wurde nicht zugelassen. Der Kläger legte Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht erklärte die Beschwerde für unzulässig. Der Kläger sei nicht klagebefugt; er könne sich nicht auf das postmortale Persönlichkeitsrecht seiner Frau berufen.
Der Kläger legte eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Dieser stellte eine Verletzung des Rechts auf Privatleben nach Art. 8 EMRK fest. Die Gerichte hätten sich mit der Klage des Klägers inhaltlich auseinandersetzen müssen. Nach der Entscheidung des EGMR beantragte der Kläger ein Wiederaufnahmeverfahren. Diesmal prüfte das Verwaltungsgericht inhaltlich, ob die Frau des Klägers einen Anspruch auf eine Dosis Natrium-Pentobarbital gehabt habe. Es verneinte dies jedoch erneut.
Nachdem das Oberverwaltungsgericht diese Entscheidung bestätigt hatte, legte der Kläger Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Rechtliche Bewertung:
Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass Verweigerung der Erlaubnis, Natrium-Pentobarbital zu erwerben, rechtswidrig gewesen war.
Die Frau des Klägers habe zum Erwerb des mittels grundsätzlich einer Erlaubnis bedurft. § 5 des Betäubungsmittelgesetzes sehe vor, dass die Erlaubnis erteilt werden dürfe, wenn die Abgabe der Substanz der medizinischen Versorgung der Bevölkerung diene. Danach könnten Betäubungsmittel dann abgegeben werden, wenn sie zu medizinischen Zwecken benötigt würden. Deshalb sei die Abgabe zum Zwecke der Selbsttötung grundsätzlich ausgeschlossen. Denn die Selbsttötung gehöre nicht zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Es sei aber zu berücksichtigen, dass die Vorenthaltung eines Mittels zur Selbsttötung in grundrechtlich geschützte Rechte eingreife. Schwer und unheilbar kranke Menschen hätten ein Recht, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden solle. Das beschränke sich nicht auf das Endstadium tödlicher Krankheiten. Es gelte auch für andere schwer kranke Menschen. Dabei berief sich das Bundesverwaltungsgericht nicht nur auf die verfassungsrechtliche Literatur in Deutschland, sondern auch auf mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht (beispiielsweise das Urteil im Fall Gross gegen Schweiz und Haas gegen Deutschland)
Dieses Recht werde beeinträchtigt, wenn die Möglichkeit, tödliche Substanzen zur Selbsttötung zu erwerben, ausgeschlossen würde. Im Fall der Frau des Klägers sei in ihr grundrechtlich geschütztes Recht eingegriffen worden, weil ihr der Zugang zu dem Mittel verweigert worden sei.
Das Verbot der Abgabe tödlicher Substanzen müsse deshalb im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden. Diese Auslegung ergebe, dass der Erwerb eines Mittels zur Selbsttötung möglich sein müsse, wenn sich der Betroffene wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befinde.
Eine solche extreme Notlage liege unter drei Voraussetzungen vor:
– wenn die schwere und unheilbaren Erkrankung mit starken Schmerzen verbunden sei, die nicht ausreichend gelindert werden könnten;
– wenn der Betroffene sich frei und ernsthaft entschieden habe, sein Leben zu beenden und
– ihm keine andere zumutbare Möglichkeit zur Verfügung stehe, den Sterbewunsch zu verwirklichen.
Der Staat dürfe dem Betroffenen keine Pflicht zum Weiterleben auferlegen.
Das Bundesamt für Arzneimittel hätte deshalb nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts die beantragte Erlaubnis nicht ablehnen dürfen, ohne näher zu prüfen, ob diese Voraussetzungen vorlägen. Vor allem hätte das Bundesamt prüfen müssen, ob die Frau eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches gehabt hätte.
Über das Urteil berichtet auch die Süddeutsche Zeitung hier
Bitte beachten Sie auch den Beitrag “Der EGMR und das Recht auf Sterbehilfe”
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 02.03.2017 (Az: BVerwG 3 C 19.15)