Das Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Fallrecht. Man kann die Bedeutung und Reichweite der Rechte, die die Konvention garantiert, nur dann wirklich verstehen, wenn man sich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auseinandersetzt. Diese entwickelt sich einerseits ständig weiter; andererseits gibt es „klassische Fälle“, die die Auslegung der EMRK dauerhaft geprägt haben. Einige dieser Urteile und Entscheidungen möchte ich in lockerer Folge vorstellen. Den Anfang macht das Urteil im Fall Lingens gegen Österreich. Es stammt aus dem Jahre 1986, aber der Gerichtshof zitiert es immer noch regelmäßig in Fällen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung betreffen.
Sachverhalt:
Der Fall betraf die Verurteilung eines Journalisten wegen übler Nachrede. Kurz nach der österreichischen Wahl im Jahre 1975 bezichtigte Simon Wiesenthal, der als „Nazijäger“ bekannte Chef des jüdischen Dokumentationszentrums den damaligen Präsidenten der Freiheitlichen Partei Österreichs, Peter, Mitglied einer Einheit der SS gewesen zu sein, die Massaker an Zivilisten begangen hatte. Der damalige Bundeskanzler Kreisky unterstützte Peter in zwei Interviews. Dabei bezichtigte er Wiesenthals Organisation als Mafia und war ihm „Mafiamethoden“ vor.
Der Beschwerdeführer veröffentlichte zwei Artikel in einem Magazin. Im ersten kritisierte er Peter; in diesem Artikel schrieb er über das Verhalten Kreiskys: „Bei einem anderen würde man es wahrscheinlich übelsten Opportunismus nennen”
Im zweiten Artikel setzte er sich mit näher mit dem Verhalten Kreiskys auseinander. Er schrieb unter anderem: „In Wahrheit kann man das, was Kreisky tut, auf rationale Weise nicht widerlegen. Nur irrational: es ist unmoralisch. Würdelos”).
Kreisky betrieb daraufhin zwei strafrechtliche Privatklageverfahren wegen übler Nachrede gegen den Beschwerdeführer. Dieser Tatbestand setzt voraus, dass der Täter den anderen einer Charaktereigenschaft zeiht oder eines Verhaltens beschuldigt, die geeignet ist, diesen in der öffentlichen Wahrnehmung herabzusetzen. Der Täter ist nicht zu bestrafen, wenn die Behauptung wahr ist.
Der Beschwerdeführer wurde zu einer Geldstrafe von 15.000 Schilling verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien befand in letzter Instanz, dass der Straftatbestand der üblen Nachrede das Ansehen einer Person in ihrem sozialen Umfeld schütze. Im Falle eines Politikers sei das seine öffentliche Wahrnehmung. Da Beleidigungen in politischen Auseinandersetzungen jedoch an der Tagesordnung seien, müssten Politiker gegenüber herabwürdigenden Äußerungen mehr Toleranz zeigen. Kreisky sei sowohl in seiner Eigenschaft als Führer seiner Partei als auch als Privatperson beleidigt worden. Die Aussagen „übelster Opportunismus“, „unmoralisch“ und „würdelos“ seien herabsetzend und nicht als Werturteile zulässig. Auch Journalisten müssten sich innerhalb der Grenzen bewegen, die ihnen das Strafrecht auferlege. Ihre Aussage sei es in erster Linie, Informationen zu verbreiten. Da die Aussagen herabsetzend gewesen seien, obliege es dem Beschwerdeführer, den Wahrheitsbeweis zu erbringen. Da er dies nicht getan habe, habe er sich strafbar gemacht.
Rechtliche Würdigung:
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte die Verurteilung im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Meinungs- und Äußerungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK. Dabei war unstreitig, dass die Verurteilung einen Eingriff in dieses Recht darstellt. Die Frage war lediglich, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Ein Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn er eine gesetzliche Grundlage hat, einem legitimen Ziel dient und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die Vorschrift über üble Nachrede eine hinreichende gesetzliche Grundlage war und dass diese Vorschrift einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Ehre anderer diente.
Der EGMR beschäftigte sich nur mit der Frage näher, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Dies erfordere, dass es ein dringendes soziales Bedürfnis gegeben habe. Staaten hätten einen bestimmten Einschätzungsspielraum (“margin of appreciation”), ob es ein solches Bedürfnis gebe. Dieser Einschätzungssspielraum gehe aber einher mit der Überwachung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es obliege dem Gerichtshof, zu prüfen, ob die Staaten ihren Beurteilungsspielraum überschritten hätten. Dabei müsse der Gerichtshof alle Umstände des Falles mit in Betracht ziehen.
Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Äußerungsfreiheit ein grundlegender Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft sei. Sie sei nicht nur auf Ideen oder Aussagen anwendbar, die wohlwollend oder gleichgültig zur Kenntnis genommen würden. Dies sei ein Erfordernis der Offenheit und des Pluralismus. Da Kreisky in seiner Eigenschaft als Politiker angegriffen worden sei, müsse man den Hintergrund der Äußerungen des Beschwerdeführers bedenken. Kreisky habe Simon Wiesenthal scharf angegriffen; daher habe der Beschwerdeführer auch scharf antworten dürfen.
Die österreichischen Gerichte hätten dem Beschwerdeführer abverlangt, die Wahrheit seiner Aussagen zu beweisen, um einer Verurteilung zu entgehen. Bei den in Frage stehenden Äußerungen handele es sich aber um Werturteile. Deren Wahrheit könne nicht bewiesen werden. Darin unterschieden sie sich von Tatsachenbehauptungen. Es sei daher eine unzulässige Beschränkung der Meinungsfreiheit, dem Beschwerdeführer den Beweis der Wahrheit abzuverlangen. Dabei sei auch zu bedenken, dass die Tatsachen, auf die der Beschwerdeführer seine Aussage gegründet habe, unbestritten gewesen seien und dass er die Aussagen in gutem Glauben gemacht habe.
Daher verletze seine Verurteilung den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK
Lingens gegen Österreich, Beschwerde Nr. 9815/82, Urteil vom 08.07.1986