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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Meinungsfreiheit

Klassische Entscheidungen des EGMR (1) – Lingens gegen Österreich

Holger Hembach · 13. Juli 2016 ·

Das Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Fallrecht. Man kann die Bedeutung und Reichweite der Rechte, die die Konvention garantiert, nur dann wirklich verstehen, wenn man sich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auseinandersetzt. Diese entwickelt sich einerseits ständig weiter; andererseits gibt es „klassische Fälle“, die die Auslegung der EMRK dauerhaft geprägt haben. Einige dieser Urteile und Entscheidungen möchte ich in lockerer Folge vorstellen. Den Anfang macht das Urteil im Fall Lingens gegen Österreich. Es stammt aus dem Jahre 1986, aber der Gerichtshof zitiert es immer noch regelmäßig in Fällen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung betreffen.

Sachverhalt:

Der Fall betraf die Verurteilung eines Journalisten wegen übler Nachrede. Kurz nach der österreichischen Wahl im Jahre 1975 bezichtigte Simon Wiesenthal, der als „Nazijäger“ bekannte Chef des jüdischen Dokumentationszentrums den damaligen Präsidenten der Freiheitlichen Partei Österreichs, Peter, Mitglied einer Einheit der SS gewesen zu sein, die Massaker an Zivilisten begangen hatte. Der damalige Bundeskanzler Kreisky unterstützte Peter in zwei Interviews. Dabei bezichtigte er Wiesenthals Organisation als Mafia und war ihm „Mafiamethoden“ vor.

Der Beschwerdeführer veröffentlichte zwei Artikel in einem Magazin. Im ersten kritisierte er Peter; in diesem Artikel schrieb er über das Verhalten Kreiskys: „Bei einem anderen würde man es wahrscheinlich übelsten Opportunismus nennen”

Im zweiten Artikel setzte er sich mit näher mit dem Verhalten Kreiskys auseinander. Er schrieb unter anderem: „In Wahrheit kann man das, was Kreisky tut, auf rationale Weise nicht widerlegen. Nur irrational: es ist unmoralisch. Würdelos”).

Kreisky betrieb daraufhin zwei strafrechtliche Privatklageverfahren wegen übler Nachrede gegen den Beschwerdeführer. Dieser Tatbestand setzt voraus, dass der Täter den anderen einer Charaktereigenschaft zeiht oder eines Verhaltens beschuldigt, die geeignet ist, diesen in der öffentlichen Wahrnehmung herabzusetzen. Der Täter ist nicht zu bestrafen, wenn die Behauptung wahr ist.

Der Beschwerdeführer wurde zu einer Geldstrafe von 15.000 Schilling verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien befand in letzter Instanz, dass der Straftatbestand der üblen Nachrede das Ansehen einer Person in ihrem sozialen Umfeld schütze. Im Falle eines Politikers sei das seine öffentliche Wahrnehmung. Da Beleidigungen in politischen Auseinandersetzungen jedoch an der Tagesordnung seien, müssten Politiker gegenüber herabwürdigenden Äußerungen mehr Toleranz zeigen. Kreisky sei sowohl in seiner Eigenschaft als Führer seiner Partei als auch als Privatperson beleidigt worden. Die Aussagen „übelster Opportunismus“, „unmoralisch“ und „würdelos“ seien herabsetzend und nicht als Werturteile zulässig. Auch Journalisten müssten sich innerhalb der Grenzen bewegen, die ihnen das Strafrecht auferlege. Ihre Aussage sei es in erster Linie, Informationen zu verbreiten. Da die Aussagen herabsetzend gewesen seien, obliege es dem Beschwerdeführer, den Wahrheitsbeweis zu erbringen. Da er dies nicht getan habe, habe er sich strafbar gemacht.

Rechtliche Würdigung:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte die Verurteilung im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Meinungs- und Äußerungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK. Dabei war unstreitig, dass die Verurteilung einen Eingriff in dieses Recht darstellt. Die Frage war lediglich, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Ein Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn er eine gesetzliche Grundlage hat, einem legitimen Ziel dient und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Vorschrift über üble Nachrede eine hinreichende gesetzliche Grundlage war und dass diese Vorschrift einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Ehre anderer diente.

Der EGMR beschäftigte sich nur mit der Frage näher, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Dies erfordere, dass es ein dringendes soziales Bedürfnis gegeben habe. Staaten hätten einen bestimmten Einschätzungsspielraum (“margin of appreciation”), ob es ein solches Bedürfnis gebe. Dieser Einschätzungssspielraum gehe aber einher mit der Überwachung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es obliege dem Gerichtshof, zu prüfen, ob die Staaten ihren Beurteilungsspielraum überschritten hätten. Dabei müsse der Gerichtshof alle Umstände des Falles mit in Betracht ziehen.

Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Äußerungsfreiheit ein grundlegender Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft sei. Sie sei nicht nur auf Ideen oder Aussagen anwendbar, die wohlwollend oder gleichgültig zur Kenntnis genommen würden. Dies sei ein Erfordernis der Offenheit und des Pluralismus. Da Kreisky in seiner Eigenschaft als Politiker angegriffen worden sei, müsse man den Hintergrund der Äußerungen des Beschwerdeführers bedenken. Kreisky habe Simon Wiesenthal scharf angegriffen; daher habe der Beschwerdeführer auch scharf antworten dürfen.

Die österreichischen Gerichte hätten dem Beschwerdeführer abverlangt, die Wahrheit seiner Aussagen zu beweisen, um einer Verurteilung zu entgehen. Bei den in Frage stehenden Äußerungen handele es sich aber um Werturteile. Deren Wahrheit könne nicht bewiesen werden. Darin unterschieden sie sich von Tatsachenbehauptungen. Es sei daher eine unzulässige Beschränkung der Meinungsfreiheit, dem Beschwerdeführer den Beweis der Wahrheit abzuverlangen. Dabei sei auch zu bedenken, dass die Tatsachen, auf die der Beschwerdeführer seine Aussage gegründet habe, unbestritten gewesen seien und dass er die Aussagen in gutem Glauben gemacht habe.

Daher verletze seine Verurteilung den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK

Lingens gegen Österreich, Beschwerde Nr. 9815/82, Urteil vom 08.07.1986

Video: Der Fall Lingens gegen Österreich

Äusserungsfreiheit im Arbeitsverhältnis – Langner gegen BR Deutschland

Holger Hembach · 7. Oktober 2015 ·

Im Fall Langner gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein weiteres Mal mit der Meinungsfreiheit innerhalb von Arbeitsverhältnissen auseinandergesetzt. Er hat seine bisherige Linie beibehalten. Danach gilt die Meinungsfreiheit grundsätzlich auch für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Diese schulden ihrem Arbeitgeber allerdings eine gewisse Solidarität und müssen sich unter Umständen Zurückhaltung auferlegen. Wie weit die Äusserungsfreiheit geht, muss anhand der Umstände des Einzelfalles entschieden werden. Dabei spielt es beispielsweise eine Rolle, inwieweit sich der Arbeitnehmer bei seiner Äusserung auf Tatsachen gestützt hat, welches Ziel er erreichen wollte oder ob ihm dazu andere Möglichkeiten als öffentliche Äusserungen zur Verfügung standen.

 

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer hatte seit 1993 im Dresdner Wohnungsamt gearbeitet. Er hatte dort der Abteilung vorgestanden, die sich mit der Ahndung der Zweckentfremdung von Wohnraum befasste.

1998 nahm er an einer Personalversammlung teil, bei der auch Vertreter der Gewerkschaft anwesend waren. Dort hielt der Stellvertretende Bürgermeister für Wirtschaft und Wohnungswesen eine kurze Rede, in der er darüber sprach, dass die Regeln über die Zweckentfremdung von Wohnraum zum Ende des Jahres auslaufen würden. Daraufhin ergriff der Beschwerdeführer das Wort und äusserte, der stellvertretende Bürgermeister habe Rechtsbeugung begangen, als er 1995/96 den Abriss eines bestimmten Häuserblocks angeordnet habe.

Zwei Tage später forderte der Abteilungsleiter den Beschwerdeführer auf, seine Vorwürfe schriftlich zu erläutern.  Der Beschwerdeführer schrieb mehrere Seiten, auf denen er den stellvertretenden Bürgermeister wiederholt der Rechtsbeugung beschuldigte. Er führte auch aus, der stellvertretende Bürgermeister habe es versäumt, eine sozial akzeptable Lösung für die Auflösung der Abteilung zu finden, die sich mit der Zweckentfremdung von Wohnraum befasste.

Kurze Zeit später wurde dem Beschwerdeführer gekündigt. Die Kündigung stützte sich vorwiegend darauf, dass er den stellvertretenden Bürgermeister der Rechtsbeugung beschuldigt hatte.

Der Beschwerdeführer klagte gegen die Kündigung. Nach mehreren Instanzen wurde die Kündigung schliesslich als als rechtmässig anerkannt. Nachdem eine Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht gescheitert war, legte der Beschwerdeführer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Nach seiner Auffassung fiel seine Aussage, der stellvertretende Bürgermeister habe eine Rechtsbeugung begangen, in den Bereich der freien Meinungsäusserung. Seine Entlassung aufgrund dieser Äusserunge verletze seine Äusserungs- und Meinungsfreiheit.

 

Rechtliche Beurteilung

Er stützte seine Beschwerde auf Artikel 10 EMRK, der lautet:

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.

 

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft, ob ein Verstoss gegen die Meinungsfreiheit vorliegt, geht er immer nach dem gleichen Schema vor: Er untersucht zunächst, ob ein Eingriff in die Äusserungs- und Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers vorliegt. Wenn ja, dann prüft er in einem zweiten Schritt, ob dieser Eingriff gerechtfertigt war. Dazu muss der Eingriff eine gesetzliche Grundlage haben und er muss einem Ziel dienen, das in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Und schliesslich wägt der EGMR ab zwischen den Interessen des Betroffenen und den Interessen der Allgemeinheit.

Der Gerichtshof stellte ohne grosse Diskussion fest, dass die Entlassung einen Eingriff in die Äusserungsfreiheit bedeutete.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht wandte sich nun der Frage zu, ob dieser Eingriff gerechtfertigt war. Die Entlassung des Beschwerdeführers war auf das Kündigungsschutzgesetz gestützt worden. Damit lag eine gesetzliche Grundlage vor. Der Gerichtshof erkannte auch an, dass die Kündigung dem Interesse gedient hatte, den Betriebsfrieden aufrecht zu erhalten und die Reputation des stellvertretenden Bürgermeisters zu schützen.

Schliesslich prüfte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verhältnismässigkeit derKündigung. Dabei ging es darum, die Folgen der Kündigung für den Beschwerdeführer gegen die Ziele abzuwägen, die dadurch verfolgt wurden. Mit anderen Worten: Ist die Kündigung des Beschwerdeführers unverhältnismässig hart, um die Reputation des stellvertretenden Bürgermeisters zu schützen und den Betriebsfrieden zu wahren?

Der Gerichtshof stellte fest, dass der Angriff auf die Reputation des stellvertretenden Bürgermeisters schwerwiegend war. Dadurch, dass der Beschwerdeführer den stellvertretenden Bürgermeister einer Rechtsbeugung beschuldigte, bezichtigte er ihn einer schweren Straftat. Da der Beschwerdeführer selber Jurist war, wusste er auch um die Schwere der Behauptung. Ausserdem hatte der Beschwerdeführer das angeblich rechtswidrige Verhalten vorher nie zur Sprache gebracht, obwohl es schon zwei Jahre zurücklag. Er konnte also nicht behaupten, er habe die Aufmerksamkeit auf einen Missstand lenken wollen. Dieser Aspekt spielt in Verfahren häufig eine Rolle, die Äusserungen innerhalb eines Arbeitsverhältnisses betreffen. Der EGMR räumt Arbeitnehmern einen grösseren Spielraum für Kritik ein, wenn sie Missstände anprangern wollen und damit gewissermassen im Interesse des Allgemeinwohls handeln.

Aufgrund dieser Überlegungen kam der EGMR zu dem Schluss, dass die Äusserung des Beschwerdeführers nicht mehr durch die Meinungs- und Äusserungsfreiheit gedeckt war. Er stellte keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention fest.

Langner gegen BR Deutschland, Urteil vom 17.09.2015, Beschwerde Nr. 14464/09

 

 

Rechtsanwalt Holger Hembach