Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine „Superrevisionsinstanz“. Er prüft nicht, ob deutsche Gerichte das deutsche Recht richtig angewandt haben. Er kontrolliert aber die Einhaltung der EMRK durch die Vertragsstaaten. Dazu gehört auch, dass er prüft, ob die Auslegung oder Anwendung eines deutschen Gesetzes im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. Das kann dazu führen, dass er im Ergebnis eben doch die Auslegung einer Vorschrift des deutschen Rechts beanstandet.
Ein Beispiel hierfür ist das Urteil im Fall Marc Brauer gegen Deutschland. In diesem Fall verstieß die Verweigerung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO) gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer hatte bereits seit Jahren psychische Probleme. Im Jahr 2012 wurde er festgenommen, weil er vor einem Gericht mit einem Hammer Autos beschädigt hatte. Er wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Am 18.12.2012 urteilte das Landgericht Münster, dass er die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hatte. Es ordnete die Einweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus an. Der Pflichtverteidiger und der Betreuer des Beschwerdeführers waren bei der Verkündung des Urteils anwesend.
Der Beschwerdeführer reagierte sehr erregt. Er äußerte, dass er nicht mehr von seinem Verteidiger vertreten werden wollte und dass er selbst Revision gegen das Urteil einlegen wolle. Der Vorsitzende Richter informierte ihn, dass dies nicht sofort möglich sei. Er informierte ihn auch darüber, innerhalb welcher Frist und in welcher Form er das Rechtsmittel einlegen könne.
Der Beschwerdeführer wurde in das psychiatrische Krankenhaus gebracht. Er beruhigte sich kurze Zeit später.
Am 19.12.2012 schrieb der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers diesem einen Brief. Der Verteidiger teilte mit, er respektiere den Wunsch des Beschwerdeführers nach einem neuen Anwalt und lege daher das Mandat nieder.
Der Verteidiger fügte einige Hinweise zur Einlegung der Revision hinzu. Er teilte mit, der Beschwerdeführer könne binnen einer Woche, also bis zum 27.12., Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster einlegen. Revisionen könnten entweder schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden.
Da der Beschwerdeführer nicht in Freiheit sei, komme die Vorschrift des § 299 StPO auf ihn zur Anwendung. Die bedeute, dass er Erklärungen bezüglich auf Rechtsmittel bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts einlegen könne, in dessen Bezirk die Anstalt liege, in der er seinen Aufenthalt habe. Daher sei das Amtsgericht Rheine zuständig. Nach § 299 Abs. 2 genüge es zur Fristwahrung, wenn das Protokoll innerhalb der Frist aufgenommen werde.
Der Pflichtverteidiger fügte auch Erläuterungen zur Begründung der Revision hinzu.
Der Brief des Verteidigers ging dem Beschwerdeführer am 21.12.2012 zum. Am gleichen Tag schrieb er einen Brief an das Amtsgericht Rheine, in dem er Revision einlegte. Das Personal des psychiatrischen Krankenhauses sandte diesen Brief am nächsten Tag ab.
Der Brief ging am 28.12.2012 beim Amtsgericht Rheine ein. Er wurde von dort sofort an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo er am 03.01.2013 einging.
Das Landgericht informierte den Beschwerdeführer, dass die Revision verspätet eingelegt worden war.
Der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers, der seine Arbeit für den Beschwerdeführer wieder aufgenommen hatte, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird jemandem, der eine Frist für ein Rechtsmittel versäumt hat, die Möglichkeit gegeben die versäumte Handlung doch noch nachzuholen. Die Voraussetzung dafür ist, dass er die Frist ohne Verschulden versäumt hat.
Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer habe die Hinweise zur Einlegung der Revision missverstanden. Er habe geglaubt, er könne die Revision beim Amtsgericht Rheine entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einlegen.
Der Generalbundesanwalt erklärte zur Revision, die Hinweise des Verteidigers seien missverständlich gewesen. Sie hätten dahingehend verstanden werden können, dass die Revision beim Amtsgericht Rheine wahlweise zur Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich hätte eingelegt werden können.
Der Beschwerdeführer sei jedoch vom Gericht am Tag der Urteilsverkündung über die Modalitäten einer Revisionseinlegung belehrt worden. Dies sei hinreichend.
Der Verteidiger des Beschwerdeführers erwiderte, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Er habe sich offensichtlich nach der Verkündung des Urteils in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass er die Erläuterungen des Vorsitzenden Richters zur Einlegung der Revision nicht richtig verstanden habe.
Der Bundesgerichtshof verwarf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf gleichzeitig die Revision, weil der Beschwerdeführer die Frist nicht gewahrt habe (Beschluss vom 24.04.2013, 4 StR 86/13). Der Beschwerdeführer sei ausführlich darüber belehrt worden, wie die Revision einzulegen sei. Dafür, dass er diese Erläuterungen nicht richtig verstanden habe, sei er selbst verantwortlich. Außerdem sei er von seinem Verteidiger auf die korrekte Form der Revisionseinlegung hingewiesen worden. Der Inhalt des Briefes des Verteidigers sei nicht missverständlich, sondern gebe die Gesetzeslage zutreffend wieder.
Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese nicht zur Entscheidung an, ohne den Beschluss zu begründen.
Rechtliche Beurteilung
Der EGMR prüfte die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.
Er wies darauf hin, dass Artikel 6 EMRK auch den Zugang zu einem Gericht garantiere. Dieses Recht gelte nicht absolut. Es könne beschränkt werden, beispielsweise durch Fristen oder durch formale Anforderungen an ein Rechtsmittel. Die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht müssten jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und proportional zu dem angestrebten Zweck sein.
Es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, Vorschriften des nationalen Rechts einschließlich der prozessualen Regeln zu interpretieren. Es sei jedoch Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht noch im Einklang mit der EMRK stünden.
Der Beschwerdeführer habe das Rechtsmittel bei dem falschen Gericht eingelegt. Es komme darauf an, ob das Verschulden des Beschwerdeführers es rechtfertige, ihm den Zugang zu einer weiteren Instanz zu verweigern. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer zwangsweise in einem psychiatrischen Hospital gewesen sei und deshalb besonders verletzlich oder schutzwürdig gewesen sei. Auch wenn der Verteidiger des Beschwerdeführers darauf nur kurz hingewiesen habe, sei dies dem Bundesgerichtshof aufgrund der Verfahrensakte bekannt gewesen.
Der Beschwerdeführer habe zwar einen Verteidiger gehabt. Dieser habe jedoch sein Mandat niedergelegt, als der Beschwerdeführer habe das Revision einlegen wollen. Da jedoch das Mandat eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht nur durch Gerichtsbeschluss beendet werde könne, habe immer noch ein Mandatsverhältnis bestanden. Der Verteidiger habe jedoch den Beschwerdeführer nicht bei der Einlegung der Revision unterstützt, sondern ihm lediglich schriftlichen Rat erteilt. Dieser sei zudem missverständlich gewesen.
Es sei grundsätzlich wünschenswert, Vorschriften über Fristen strikt anzuwenden, um Rechtssicherheit zu erreichen. In Ausnahmefällen müsse aber eine gewisse Flexibilität gezeigt werden um zu gewährleisten, dass der Zugang zu einem Gericht nicht in einem Maß beeinträchtigt werde, das gegen Artikel 6 EMRK verstoße. Auch wenn die genannten Umstände nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fielen, minderten sie doch die Verantwortung des Beschwerdeführers.
Die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe deshalb den Zugang des Beschwerdeführers in einem solchen Umfang verletzt, dass die Essenz dieses Rechtes beeinträchtigt worden sei. Der EGMR stellte deshalb eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.
Marc Brauer gegen Deutschland, Urteil vom 01.09.2016, Beschwerde Nr. 24062/13