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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Faires Verfahren

Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren – Dridi gegen Deutschland

Holger Hembach · 3. August 2018 ·

Zur EMRK gibt es umfangreiche und differenzierte Rechtsprechung. Ob ein Verstoß gegen die Konvention vorliegt, ist häufig schwer festzustellen, und oft lässt sich kaum vorhersagen, wie der EGMR entscheiden wird. In einigen Fällen liegt die Konventionsverletzung aber offen zutage. Der Fall Dridi gegen Deutschland gehört meines Erachtens eher in die zweite Kategorie. In diesem Fall stellte der Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Strafverfahren eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest.

Sachverhalt:

 Der Beschwerdeführer war 2009 vom Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen verurteilt worden. In diesem Verfahren wurde er von einem Jurastudenten vertreten (die Strafprozessordnung sieht vor, dass in bestimmten Fällen mit Genehmigung des Gerichts auch Personen als Verteidiger auftreten dürfen, die keine Rechtsanwälte oder Hochschullehrer sind, § 138 Abs. 2 StPO).  

Der Beschwerdeführer legte Berufung ein. Er beantragte auch, ihn von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Berufungsverhandlung zu entbinden. Auch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, die sie auf das Strafmaß beschränkte.

Nach Einlegung der Berufungen zog der Beschwerdeführer nach Spanien. Er informierte das Gericht über seine dortige Adresse.

Das Landgericht Hamburg zog am 24.04.2009 die Genehmigung, dass der Jurastudent als Verteidiger auftreten durfte, zurück. Es wies auch den Antrag zurück, den Beschwerdeführer von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Diese Entscheidung schickte das Gericht den Beschwerdeführer an seine Adresse in Spanien.

Am gleichen Tage beraumte es die Berufungsverhandlung für den 13.05.2009 an. Das Landgericht entschied, den Beschwerdeführer zu dieser Verhandlung über eine öffentliche Zustellung zu laden. Dabei wird die Ladung bei Gericht ausgehängt und der Angeklagte gilt nach zwei Wochen als ordnungsgemäß geladen.

Einen Tag vor der Verhandlung erfuhr der Student, der den Beschwerdeführer verteidigt hatte, per Telefon, dass das Oberlandesgericht die Entscheidung aufgehoben hatte, seine Genehmigung zum Auftreten als Verteidiger zurückzuziehen. Er erfuhr auch, dass die Hauptverhandlung über die Berufung am folgenden Tage stattfinden sollte.

Der Verteidiger beantragte daher per Fax, die Hauptverhandlung zu vertagen, weil er am nächsten Tag nicht in der Stadt sein werde. Darüber hinaus beantragte er, dass ihm Dokumente aus der Akte – vor allem die Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft – übersandt werden sollten. Das Gericht versuchte, die Dokumente per Fax zu übersenden, was aber nicht gelang, weil das Faxgerät des Verteidigers keine Dokumente empfangen konnte.

Am 13.05.2009, also am Tag der Hauptverhandlung, wie das Landgericht den Antrag auf Verlegung der Hauptverhandlung zurück. Es führte aus, der Rechtsanwalt habe auf sein Recht auf Ladung innerhalb der vorgesehenen Frist verzichtet, weil ihm der Termin der Hauptverhandlung bekannt gewesen sei (wie sich aus seinem Fax vom Vortag ergebe).

Das Landgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers, weil der Beschwerdeführer ohne Entschuldigung nicht erschienen sei und auch nicht von einem Verteidiger vertreten worden sein.

Der Beschwerdeführer beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Landgericht wies den Antrag zurück. Es führte aus, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung vorgelegen hätten. Der Verteidiger hätte auf die Ladungsfrist verzichtet und sein Antrag auf Verlegung des Termins hätte sich nicht auf die Nichteinhaltung der Ladungsfrist sondern auf Terminprobleme geschützt, die er nicht näher beschrieben hätte.

Das Oberlandesgericht bestätigte diese Entscheidung.

Der Beschwerdeführer legte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein; das Bundesverfassungsgericht nahm diese ohne Begründung nicht zur Entscheidung an.

 

Rechtliche Beurteilung:

Verstoß gegen Artikel 6 Abs.1 und Abs. 3 c) EMRK

Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Art. 6 Abs. 1 und Absatz 3 c) der EMRK. Art. 6 Abs. 1 regelt das Recht auf ein faires Verfahren; der dritte Absatz des Artikels hat bestimmte Aspekte dieses Rechts zum Gegenstand. Buchstabe c) dieses Absatzes garantiert das Recht, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer zum Erscheinen in der Berufungsverhandlung verpflichtet gewesen war und dass die Berufung verworfen worden war, weil er nicht erschienen war. Er führte aus, dass die Adresse des Beschwerdeführers in Spanien dem Landgericht bekannt gewesen war, dass eine vorherige Entscheidung erfolgreich an diese Adresse zugestellt worden war. Auch habe es keine erfolglosen Versuche gegeben, den Beschwerdeführer Dokumente zuzustellen. Der Beschwerdeführer sei auch sonst nicht darauf hingewiesen worden, dass ihm eine Ladung durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt worden sei – obwohl Art. 5 der EU Konvention über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen vom 29.05.2000 eine Übersendung mit der Post vorsehe. Außerdem habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Ladung keinen Verteidiger gehabt, weil zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung noch in Kraft gewesen sei, dass der Student ihm nicht vertreten dürfe. Aufgrund dieser Erwägungen sei der Gerichtshof davon überzeugt, dass die öffentliche Zustellung der Ladung nicht genug gewesen sei, um den Beschwerdeführer in die Lage zu versetzen, der Hauptverhandlung in seiner Sache beizuwohnen.

Insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 vor

 

Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 b) EMRK

Darüber hinaus stützte sich der Beschwerdeführer auf Art. 6 Abs. 3 b), der das Recht garantiert, ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu haben.

Der Gerichtshof führte aus, der Verteidiger habe erst einen Tag vor der Hauptverhandlung erfahren, dass diese am nächsten Tag stattfinden sollte. Er habe nicht über eine Kopie der Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft verfügt der Verteidiger habe eine Vertagung beantragt; dieser Antrag sei aber zurückgewiesen worden. Insofern könne man nicht davon ausgehen, dass der Verteidiger auf sein Recht auf fristgemäße Ladung verzichtet habe und dass er in der Lage gewesen sei, sich auf die Verteidigung vorzubereiten und an der Hauptverhandlung teilzunehmen.

Auch insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Artikel 6 EMRK – Marc Brauer gegen Deutschland

Holger Hembach · 2. September 2016 ·

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine „Superrevisionsinstanz“. Er prüft nicht, ob deutsche Gerichte das deutsche Recht richtig angewandt haben. Er kontrolliert aber die Einhaltung der EMRK durch die Vertragsstaaten. Dazu gehört auch, dass er prüft, ob die Auslegung oder Anwendung eines deutschen Gesetzes im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. Das kann dazu führen, dass er im Ergebnis eben doch die Auslegung einer Vorschrift des deutschen Rechts beanstandet.

Ein Beispiel hierfür ist das Urteil im Fall Marc Brauer gegen Deutschland. In diesem Fall verstieß die Verweigerung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO) gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hatte bereits seit Jahren psychische Probleme. Im Jahr 2012 wurde er festgenommen, weil er vor einem Gericht mit einem Hammer Autos beschädigt hatte. Er wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Am 18.12.2012 urteilte das Landgericht Münster, dass er die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hatte. Es ordnete die Einweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus an. Der Pflichtverteidiger und der Betreuer des Beschwerdeführers waren bei der Verkündung des Urteils anwesend.

Der Beschwerdeführer reagierte sehr erregt. Er äußerte, dass er nicht mehr von seinem Verteidiger vertreten werden wollte und dass er selbst Revision gegen das Urteil einlegen wolle. Der Vorsitzende Richter informierte ihn, dass dies nicht sofort möglich sei. Er informierte ihn auch darüber, innerhalb welcher Frist und in welcher Form er das Rechtsmittel einlegen könne.

Der Beschwerdeführer wurde in das psychiatrische Krankenhaus gebracht. Er beruhigte sich kurze Zeit später.

Am 19.12.2012 schrieb der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers diesem einen Brief. Der Verteidiger teilte mit, er respektiere den Wunsch des Beschwerdeführers nach einem neuen Anwalt und lege daher das Mandat nieder.

Der Verteidiger fügte einige Hinweise zur Einlegung der Revision hinzu. Er teilte mit, der Beschwerdeführer könne binnen einer Woche, also bis zum 27.12., Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster einlegen. Revisionen könnten entweder schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden.

Da der Beschwerdeführer nicht in Freiheit sei, komme die Vorschrift des § 299 StPO auf ihn zur Anwendung. Die bedeute, dass er Erklärungen bezüglich auf Rechtsmittel bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts einlegen könne, in dessen Bezirk die Anstalt liege, in der er seinen Aufenthalt habe. Daher sei das Amtsgericht Rheine zuständig. Nach § 299 Abs. 2 genüge es zur Fristwahrung, wenn das Protokoll innerhalb der Frist aufgenommen werde.

Der Pflichtverteidiger fügte auch Erläuterungen zur Begründung der Revision hinzu.

Der Brief des Verteidigers ging dem Beschwerdeführer am 21.12.2012 zum. Am gleichen Tag schrieb er einen Brief an das Amtsgericht Rheine, in dem er Revision einlegte. Das Personal des psychiatrischen Krankenhauses sandte diesen Brief am nächsten Tag ab.

Der Brief ging am 28.12.2012 beim Amtsgericht Rheine ein. Er wurde von dort sofort an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo er am 03.01.2013 einging.

Das Landgericht informierte den Beschwerdeführer, dass die Revision verspätet eingelegt worden war.

Der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers, der seine Arbeit für den Beschwerdeführer wieder aufgenommen hatte, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird jemandem, der eine Frist für ein Rechtsmittel versäumt hat, die Möglichkeit gegeben die versäumte Handlung doch noch nachzuholen. Die Voraussetzung dafür ist, dass er die Frist ohne Verschulden versäumt hat.

Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer habe die Hinweise zur Einlegung der Revision missverstanden. Er habe geglaubt, er könne die Revision beim Amtsgericht Rheine entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einlegen.

Der Generalbundesanwalt erklärte zur Revision, die Hinweise des Verteidigers seien missverständlich gewesen. Sie hätten dahingehend verstanden werden können, dass die Revision beim Amtsgericht Rheine wahlweise zur Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich hätte eingelegt werden können.

Der Beschwerdeführer sei jedoch vom Gericht am Tag der Urteilsverkündung über die Modalitäten einer Revisionseinlegung belehrt worden. Dies sei hinreichend.

Der Verteidiger des Beschwerdeführers erwiderte, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Er habe sich offensichtlich nach der Verkündung des Urteils in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass er die Erläuterungen des Vorsitzenden Richters zur Einlegung der Revision nicht richtig verstanden habe.

Der Bundesgerichtshof verwarf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf gleichzeitig die Revision, weil der Beschwerdeführer die Frist nicht gewahrt habe (Beschluss vom 24.04.2013, 4 StR 86/13). Der Beschwerdeführer sei ausführlich darüber belehrt worden, wie die Revision einzulegen sei. Dafür, dass er diese Erläuterungen nicht richtig verstanden habe, sei er selbst verantwortlich. Außerdem sei er von seinem Verteidiger auf die korrekte Form der Revisionseinlegung hingewiesen worden. Der Inhalt des Briefes des Verteidigers sei nicht missverständlich, sondern gebe die Gesetzeslage zutreffend wieder.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese nicht zur Entscheidung an, ohne den Beschluss zu begründen.

Rechtliche Beurteilung

Der EGMR prüfte die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Er wies darauf hin, dass Artikel 6 EMRK auch den Zugang zu einem Gericht garantiere. Dieses Recht gelte nicht absolut. Es könne beschränkt werden, beispielsweise durch Fristen oder durch formale Anforderungen an ein Rechtsmittel. Die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht müssten jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und proportional zu dem angestrebten Zweck sein.

Es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, Vorschriften des nationalen Rechts einschließlich der prozessualen Regeln zu interpretieren. Es sei jedoch Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht noch im Einklang mit der EMRK stünden.

Der Beschwerdeführer habe das Rechtsmittel bei dem falschen Gericht eingelegt. Es komme darauf an, ob das Verschulden des Beschwerdeführers es rechtfertige, ihm den Zugang zu einer weiteren Instanz zu verweigern. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer zwangsweise in einem psychiatrischen Hospital gewesen sei und deshalb besonders verletzlich oder schutzwürdig gewesen sei. Auch wenn der Verteidiger des Beschwerdeführers darauf nur kurz hingewiesen habe, sei dies dem Bundesgerichtshof aufgrund der Verfahrensakte bekannt gewesen.

Der Beschwerdeführer habe zwar einen Verteidiger gehabt. Dieser habe jedoch sein Mandat niedergelegt, als der Beschwerdeführer habe das Revision einlegen wollen. Da jedoch das Mandat eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht nur durch Gerichtsbeschluss beendet werde könne, habe immer noch ein Mandatsverhältnis bestanden. Der Verteidiger habe jedoch den Beschwerdeführer nicht bei der Einlegung der Revision unterstützt, sondern ihm lediglich schriftlichen Rat erteilt. Dieser sei zudem missverständlich gewesen.

Es sei grundsätzlich wünschenswert, Vorschriften über Fristen strikt anzuwenden, um Rechtssicherheit zu erreichen. In Ausnahmefällen müsse aber eine gewisse Flexibilität gezeigt werden um zu gewährleisten, dass der Zugang zu einem Gericht nicht in einem Maß beeinträchtigt werde, das gegen Artikel 6 EMRK verstoße. Auch wenn die genannten Umstände nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fielen, minderten sie doch die Verantwortung des Beschwerdeführers.

Die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe deshalb den Zugang des Beschwerdeführers in einem solchen Umfang verletzt, dass die Essenz dieses Rechtes beeinträchtigt worden sei. Der EGMR stellte deshalb eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

Marc Brauer gegen Deutschland, Urteil vom 01.09.2016, Beschwerde Nr. 24062/13

Faires Verfahren und Besorgnis der Befangenheit – Urteil des EGMR im Fall Mitrov gegen Mazedonien

Holger Hembach · 9. Juni 2016 ·

Das Recht auf ein faires Verfahren garantiert unter anderem, dass der Prozess vor einem unabhängigen und unparteilichen Gericht stattfindet.  Im Fall Mitrov gegen Mazedonien hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht mit der Befangenheit von Richtern auseinandergesetzt.

 

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war im Jahre 2006 mit seinem Auto in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Bei diesem Unfall starb ein 18-jähriges Mädchen. Die Mutter des Opfers war Richterin beim Gericht in Strumica (im Süden Mazedoniens in der Nähe der Bulgarischen Grenze). Bevor sie Richterin geworden war, war sie fünf Jahre lang die juristische Mitarbeitern eines Richters am Gericht in Strumica gewesen.  Dieser Richter stand nun der Abteilung für Strafsachen des Gerichts vor, der sieben Richter angehörten.

Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Die Richter, die über den Fall entscheiden sollten, gehörten der Abteilung für Strafsachen an – ebenso, wie die Mutter des Opfers. Der Anwalt des Beschwerdeführers schrieb an den Präsidenten des Gerichts. Er bat ihn, die Richter, die der Abteilung für Strafsache angehörten, vom Verfahren gegen ihn auszuschließen und das Verfahren an ein anderes Gericht zu verweisen. Die Richter könnten nicht unparteiisch sein, weil das Opfer die Tochter ihrer Kollegin sei. Der Anwalt bat den Gerichtspräsidenten, das Verfahren an ein anderes Gericht zu verweisen.

Der Gerichtspräsident holte Stellungnahmen von den Richtern ein, die an dem Prozess teilnehmen sollten. Diese versicherten schriftlich, es werde ihr Urteil nicht beeinflussen, dass das Opfer die Tochter einer Kollegin sei. Daraufhin lehnte der Präsident den Antrag ab, die Richter vom Verfahren auszuschließen und den Fall an ein anderes Gericht zu verweisen.

Die Richter führten das Verfahren durch; den Vorsitz führte der Richter, dessen Mitarbeiterin die Mutter des Opfers gewesen war. Die Mutter des Opfers trat als Nebenklägerin auf. Der Beschwerdeführer wurde zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und sechs Monaten verurteilt.  Der Mutter wurde Schadensersatz zugesprochen.

 

Rechtliche Bewertung:

Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde beim EGMR auf die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK. Er machte geltend, die Richter seien befangen gewesen.

Der Gerichtshof verwies auf seine langjährige Rechtsprechung, dass Unparteilichkeit eine objektive und eine subjektive Seite hat. Die subjektive Seite bedeute, dass der Richter frei von Vorurteilen oder Voreingenommenheit sei. Die subjektive Unparteilichkeit eines Richters werde vermutet, solange es keinen Beweis für das Gegenteil gebe.

In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle prüfe der Gerichtshof die objektive Seite, wobei die beiden Bereiche nicht immer scharf zu trennen seien. Bei dem objektiven Test gehe es darum, ob es, abgesehen von dem Verhalten des Richters. Tatsachen gebe, seine Unparteilichkeit in Zweifel ziehen könnten. Dabei gehe es zumeist um hierarchische Beziehungen zwischen dem Richter und anderen Personen oder andere Bindungen zwischen dem Richter und anderen Verfahrensbeteiligten.

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass das Verhalten der Richter im Verfahren keinen Anlass gegeben habe, an ihrer Unparteilichkeit zu zweifeln. Die subjektive Seite der Unparteilichkeit stehe daher nicht zur Debatte. Der Gerichtshof konzentrierte sich daher auf die Frage, ob es Beziehungen zwischen den Richtern und anderen Verfahrensbeteiligen gegeben habe, die Zweifel an deren Unparteilichkeit begründen könnten. Er verwies darauf, dass der strafrechtlichen Abteilung des Gerichts lediglich vier Richter angehörten. Insofern könnten persönliche Beziehungen zwischen den Richtern nicht ausgeschlossen werden.

Die Mutter des Opfers sei vier Jahre lang die juristische Mitarbeitern des Vorsitzenden Richters im Verfahren gewesen. Auch wenn nicht ersichtlich sei, dass ihre Beziehung über eine rein professionelle Zusammenarbeit hinausgegangen sei, sei dies doch geeignet, Bedenken hinsichtlich der Unparteilichkeit zu wecken. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass es um eine Familientragödie gegangen sei und dass es wegen des geltend gemachten Schadensersatzanspruches ein finanzielles Interesse der Nebenklägerin am Ausgang des Verfahrens gegeben habe.

Der Gerichtshof schloss daraus, dass es objektiv gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts gegeben habe. Er stellte eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

 

Mitrov gegen Mazedonien (Beschwerde Nr. 45959/09), Urteil vom 02.06.2006

Schatschaschwili gegen BR Deutschland

Holger Hembach · 24. Mai 2016 ·

EGMR zum fairen Verfahren im Verwaltungsprozess – Letinčić gegen Kroatien

Holger Hembach · 9. Mai 2016 ·

Nach Artikel 6 EMRK hat jeder das Recht auf ein faires Verfahren. Artikel 6 gilt aber nur in Strafverfahren und in Verfahren, die Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Pflichten betreffen. In verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten gilt der Artikel daher nicht.

Allerdings legt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Begriff der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen autonom aus. Es kommt also nicht darauf an, ob ein Rechtsstreit in dem Land, in dem ausgefochten wird, als zivil- oder verwaltungsrechtlich angesehen wird. Die Einschätzung, ob eine Streitigkeit zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, nimmt der Gerichtshof selber vor. Es kann also sein, dass ein Rechtsstreit, der vor einem Verwaltungsgericht ausgetragen wird, vor dem EGMR dennoch als zivilrechtlich gilt – so dass Artikel 6 anwendbar ist.

Einen solchen Fall betraf das Urteil Letinčić gegen Kroatien. In diesem Fall ging es die Gewährung einer Rente für die Familie von Kriegsveteranen, die sich in Folge eines Traumas umgebracht hatten.

Sachverhalt:

Der Vater des Beschwerdeführers hatte am Krieg teilgenommen. Bis dahin war er psychisch unauffällig gewesen. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg brachte er seine Frau und deren Eltern um. Danach tötete er sich selbst.

In Kroatien haben die Familien von Kriegsteilnehmern, die sich wegen eines Traumas selbst getötet haben, einen Anspruch auf Rente. Für die Entscheidung über die Gewährung der Rente gibt es eine bestimmte Behörde. Gegen deren Entscheidung kann man beim Verteidigungsministerium Beschwerde einlegen. Führt diese Beschwerde nicht zu Erfolg, kann man eine Klage beim Verwaltungsgericht einlegen.

Die Rente wird gewährt, wenn die Selbsttötung auf ein Trauma zurückzuführen ist, das durch die Teilnahme am Krieg entstanden ist. Ob das der Fall ist, wird durch ein Gutachten festgestellt. Das Gesetz nenn ausdrücklich bestimmte Kliniken und Einrichtungen, die ein solches Gutachten erstatten dürfen.

Der Beschwerdeführer war der Auffassung, sein Vater habe im Krieg ein Trauma erlitten und deshalb seine Frau und deren Eltern umgebracht und sich anschließend selbst getötet. Er beantragte eine Rente.

Die zuständige Behörde wies den Antrag zurück. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein und das Verteidigungsministerium wies die zuständige Behörde an, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Die Behörde beauftragte eine der Kliniken, die laut Gesetz für die Erstellung eines solchen Gutachtens zuständig waren. Die Klinik kam zu dem Ergebnis, es deute nichts darauf hin, dass die Selbsttötung des Vaters des Beschwerdeführers auf ein Trauma zurückzuführen sei.  Das Gutachten wurde dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung gestellt.

Der Beschwerdeführer legte erneut Beschwerde beim Verteidigungsministerium ein. Dieses wies die Beschwerde jedoch zurück. Das Gutachten sei schlüssig; es gebe keinen Grund, es anzuzweifeln.

Der Beschwerdeführer erhob Klage beim Verwaltungsgericht. Auch das Verwaltungsgericht entschied, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf die Rente habe. Es stützte sich dabei im Wesentlichen auf das Sachverständigengutachten der Klinik.

 

Rechtliche Würdigung:

Der EGMR stellte zunächst klar, dass Artikel 6 EMRK auf den Fall Anwendung finde. Es sei zwar nach kroatischem Recht eine Verwaltungsstreitigkeit. Dies sei jedoch nicht maßgeblich. Der Gerichtshof interpretiere die Begriffe der zivilrechtlichen Verpflichtung autonom. Er sei also nicht an die Einstufung nach nationalem Recht gebunden. Es sei gefestigte Rechtsprechung, dass auf Streitigkeiten über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche Artikel 6 Anwendung finde.

Der Gerichtshof prüfte dann, ob das Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden war. Der Beschwerdeführer hatte hierzu geltend gemacht, Artikel 6 EMRK beinhalte ein Recht auf Zugang zu einem Gericht. Dazu gehöre auch, dass das Gericht den Sachverhalt vollständig prüfen und gegebenenfalls die Entscheidung der Verwaltungsbehörde aufheben könne. Daran habe es gefehlt, weil das Verwaltungsgericht sich an das Sachverständigengutachten gebunden gefühlt habe.

Der EGMR wies dieses Argument zurück. Er war der Auffassung, dass das Verwaltungsgericht rechtlich die Möglichkeit gehabt habe, die Entscheidung der Behörde zu revidieren und nicht dem Sachverständigengutachten zu folgen.

Dennoch stellt der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Er führte aus, dass geprüft werden müsse, ob das Verfahren insgesamt fair gewesen sei. Hierzu gehöre auch der Grundsatz der Waffengleichheit. Beide Parteien eines Rechtsstreites müssten in gleicher Weise in der Lage sein, ihre Argumente vorzutragen und Beweismittel in den Prozess einzubringen und damit Gehör zu finden.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass dem Beschwerdeführer das Sachverständigengutachten nicht zur Stellungnahme übersandt worden war. Er habe daher keine Möglichkeit gehabt, es zu kommentieren oder ergänzende Fragen zu stellen. Der Gerichtshof hob auch hervor, dass der Beschwerdeführer im Laufe der Verfahren mehrmals hervorgehoben habe, dass sein Vater vor dem Krieg unauffällig gewesen sei, nach dem Krieg aber drei Tötungen begangen und sich dann umgebracht habe. Dies sei nur durch die Erlebnisse während des Krieges zu erklären. Dennoch habe sich mit diesem Argument niemand auseinandergesetzt.

Auch darüber hinaus habe der Beschwerdeführer mehrere spezifische Argumente vorgebracht, mit denen sich niemand auseinandergesetzt habe.

Dies führe dazu, dass das Verfahren insgesamt als unfair anzusehen sei.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

 

Letinčić gegen Kroatien, Urteil vom 03.05.2016, Beschwerde Nr. 7183/11

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