Rechtsanwalt Holger Hembach

  • English site
  • Was wir für Sie tun können
    • Beschwerden beim EGMR
    • Europäische Menschenrechts-konvention (EMRK)
    • Datenschutzgrund-verordnung
    • Wirtschaft und Menschenrechte
    • Anti-Diskriminierung und AGG
  • Was unsere Leistung kostet
  • Warum Hembach Legal
  • Wo Sie uns finden
  • Was ist neu
  • Service
    • Häufige Fragen zur EMRK
    • Lexikon der EMRK
    • Downloads
    • Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte

2. September 2016 by Holger Hembach Leave a Comment

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Artikel 6 EMRK – Marc Brauer gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine „Superrevisionsinstanz“. Er prüft nicht, ob deutsche Gerichte das deutsche Recht richtig angewandt haben. Er kontrolliert aber die Einhaltung der EMRK durch die Vertragsstaaten. Dazu gehört auch, dass er prüft, ob die Auslegung oder Anwendung eines deutschen Gesetzes im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. Das kann dazu führen, dass er im Ergebnis eben doch die Auslegung einer Vorschrift des deutschen Rechts beanstandet.

Ein Beispiel hierfür ist das Urteil im Fall Marc Brauer gegen Deutschland. In diesem Fall verstieß die Verweigerung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO) gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hatte bereits seit Jahren psychische Probleme. Im Jahr 2012 wurde er festgenommen, weil er vor einem Gericht mit einem Hammer Autos beschädigt hatte. Er wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Am 18.12.2012 urteilte das Landgericht Münster, dass er die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hatte. Es ordnete die Einweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus an. Der Pflichtverteidiger und der Betreuer des Beschwerdeführers waren bei der Verkündung des Urteils anwesend.

Der Beschwerdeführer reagierte sehr erregt. Er äußerte, dass er nicht mehr von seinem Verteidiger vertreten werden wollte und dass er selbst Revision gegen das Urteil einlegen wolle. Der Vorsitzende Richter informierte ihn, dass dies nicht sofort möglich sei. Er informierte ihn auch darüber, innerhalb welcher Frist und in welcher Form er das Rechtsmittel einlegen könne.

Der Beschwerdeführer wurde in das psychiatrische Krankenhaus gebracht. Er beruhigte sich kurze Zeit später.

Am 19.12.2012 schrieb der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers diesem einen Brief. Der Verteidiger teilte mit, er respektiere den Wunsch des Beschwerdeführers nach einem neuen Anwalt und lege daher das Mandat nieder.

Der Verteidiger fügte einige Hinweise zur Einlegung der Revision hinzu. Er teilte mit, der Beschwerdeführer könne binnen einer Woche, also bis zum 27.12., Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster einlegen. Revisionen könnten entweder schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden.

Da der Beschwerdeführer nicht in Freiheit sei, komme die Vorschrift des § 299 StPO auf ihn zur Anwendung. Die bedeute, dass er Erklärungen bezüglich auf Rechtsmittel bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts einlegen könne, in dessen Bezirk die Anstalt liege, in der er seinen Aufenthalt habe. Daher sei das Amtsgericht Rheine zuständig. Nach § 299 Abs. 2 genüge es zur Fristwahrung, wenn das Protokoll innerhalb der Frist aufgenommen werde.

Der Pflichtverteidiger fügte auch Erläuterungen zur Begründung der Revision hinzu.

Der Brief des Verteidigers ging dem Beschwerdeführer am 21.12.2012 zum. Am gleichen Tag schrieb er einen Brief an das Amtsgericht Rheine, in dem er Revision einlegte. Das Personal des psychiatrischen Krankenhauses sandte diesen Brief am nächsten Tag ab.

Der Brief ging am 28.12.2012 beim Amtsgericht Rheine ein. Er wurde von dort sofort an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo er am 03.01.2013 einging.

Das Landgericht informierte den Beschwerdeführer, dass die Revision verspätet eingelegt worden war.

Der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers, der seine Arbeit für den Beschwerdeführer wieder aufgenommen hatte, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird jemandem, der eine Frist für ein Rechtsmittel versäumt hat, die Möglichkeit gegeben die versäumte Handlung doch noch nachzuholen. Die Voraussetzung dafür ist, dass er die Frist ohne Verschulden versäumt hat.

Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer habe die Hinweise zur Einlegung der Revision missverstanden. Er habe geglaubt, er könne die Revision beim Amtsgericht Rheine entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einlegen.

Der Generalbundesanwalt erklärte zur Revision, die Hinweise des Verteidigers seien missverständlich gewesen. Sie hätten dahingehend verstanden werden können, dass die Revision beim Amtsgericht Rheine wahlweise zur Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich hätte eingelegt werden können.

Der Beschwerdeführer sei jedoch vom Gericht am Tag der Urteilsverkündung über die Modalitäten einer Revisionseinlegung belehrt worden. Dies sei hinreichend.

Der Verteidiger des Beschwerdeführers erwiderte, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Er habe sich offensichtlich nach der Verkündung des Urteils in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass er die Erläuterungen des Vorsitzenden Richters zur Einlegung der Revision nicht richtig verstanden habe.

Der Bundesgerichtshof verwarf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf gleichzeitig die Revision, weil der Beschwerdeführer die Frist nicht gewahrt habe (Beschluss vom 24.04.2013, 4 StR 86/13). Der Beschwerdeführer sei ausführlich darüber belehrt worden, wie die Revision einzulegen sei. Dafür, dass er diese Erläuterungen nicht richtig verstanden habe, sei er selbst verantwortlich. Außerdem sei er von seinem Verteidiger auf die korrekte Form der Revisionseinlegung hingewiesen worden. Der Inhalt des Briefes des Verteidigers sei nicht missverständlich, sondern gebe die Gesetzeslage zutreffend wieder.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese nicht zur Entscheidung an, ohne den Beschluss zu begründen.

Rechtliche Beurteilung

Der EGMR prüfte die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Er wies darauf hin, dass Artikel 6 EMRK auch den Zugang zu einem Gericht garantiere. Dieses Recht gelte nicht absolut. Es könne beschränkt werden, beispielsweise durch Fristen oder durch formale Anforderungen an ein Rechtsmittel. Die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht müssten jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und proportional zu dem angestrebten Zweck sein.

Es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, Vorschriften des nationalen Rechts einschließlich der prozessualen Regeln zu interpretieren. Es sei jedoch Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht noch im Einklang mit der EMRK stünden.

Der Beschwerdeführer habe das Rechtsmittel bei dem falschen Gericht eingelegt. Es komme darauf an, ob das Verschulden des Beschwerdeführers es rechtfertige, ihm den Zugang zu einer weiteren Instanz zu verweigern. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer zwangsweise in einem psychiatrischen Hospital gewesen sei und deshalb besonders verletzlich oder schutzwürdig gewesen sei. Auch wenn der Verteidiger des Beschwerdeführers darauf nur kurz hingewiesen habe, sei dies dem Bundesgerichtshof aufgrund der Verfahrensakte bekannt gewesen.

Der Beschwerdeführer habe zwar einen Verteidiger gehabt. Dieser habe jedoch sein Mandat niedergelegt, als der Beschwerdeführer habe das Revision einlegen wollen. Da jedoch das Mandat eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht nur durch Gerichtsbeschluss beendet werde könne, habe immer noch ein Mandatsverhältnis bestanden. Der Verteidiger habe jedoch den Beschwerdeführer nicht bei der Einlegung der Revision unterstützt, sondern ihm lediglich schriftlichen Rat erteilt. Dieser sei zudem missverständlich gewesen.

Es sei grundsätzlich wünschenswert, Vorschriften über Fristen strikt anzuwenden, um Rechtssicherheit zu erreichen. In Ausnahmefällen müsse aber eine gewisse Flexibilität gezeigt werden um zu gewährleisten, dass der Zugang zu einem Gericht nicht in einem Maß beeinträchtigt werde, das gegen Artikel 6 EMRK verstoße. Auch wenn die genannten Umstände nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fielen, minderten sie doch die Verantwortung des Beschwerdeführers.

Die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe deshalb den Zugang des Beschwerdeführers in einem solchen Umfang verletzt, dass die Essenz dieses Rechtes beeinträchtigt worden sei. Der EGMR stellte deshalb eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

Marc Brauer gegen Deutschland, Urteil vom 01.09.2016, Beschwerde Nr. 24062/13

Filed Under: Allgemein Tagged With: Artikel 6 EMRK, Deutschland, Faires Verfahren, Marc Brauer, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

4. Januar 2016 by Holger Hembach Leave a Comment

Abwesende Zeugen und das Recht auf Zeugenbefragung nach Artikel 6 Abs. 3 d) EMRK – Schatschaschwili gegen BR Deutschland

Das Recht, Zeugen zu befragen, gehört zu den wichtigsten Rechten eines Beschuldigten im Strafverfahren. Im Fall gegen Schatschaschwili gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen dieses Recht eingeschränkt werden darf. Das Urteil des EGMR trägt dazu bei, die bisher uneinheitliche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Thema zu harmonisieren. Es hat grosse Bedeutung für Strafverfahren in Deutschland und anderen Mitgliedsstaaten des Europarates (ein Video zu diesem Urteil habe ich hier online gestellt)

 

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer wurde in Deutschland wegen zwei verschiedener Sachverhalt verurteilt:

Im Oktober 2006 drang er gemeinsam mit einem Mittäter in die Wohnung zweier Prostituierter in Kassel ein. Die beiden bedrohten die Prostituierten, die aus Litauen stammten, mit einer Gaspistole und zwangen sie so, ihnen Bargeld und mehrere Mobiltelefone zu übergeben.

Im Februar 2007 betrat der Beschwerdeführer (nach Überzeugung des deutschen Gerichts, das ihn verurteilte) gemeinsam mit einem Mittäter eine Wohnung in Göttingen. Diese wurde von zwei Frauen aus Lettland zur Prostitution genutzt.  Der Beschwerdeführer und ein Mittäter verschafften sich Zugang zu der Wohnung indem sie vorgaben, Freier zu sein.

Der Mittäter des Beschwerdeführers zog ein Messer. Eine der beiden Frauen floh über den Balkon. Der Mittäter des Beschwerdeführers bedrohte die andere Frau mit einem Messer und zwang sie so, ihr das Versteck von Bargeld zu verraten und ihm den Inhalt ihrer Geldbörse zu übergeben.

Die beiden Frauen zogen zunächst für einige Tage bei einer Freundin ein, weil sie Angst hatten, in ihrer Wohnung zu bleiben. Sie berichteten der Freundin detailliert, was geschehen war, und diese informierte die Polizei. Die Polizei befragte beide Frauen mehrfach zu den Ereignissen. In einer der Vernehmungen gaben die beiden an, in Kürze nach Lettland zurückkehren zu wollen.

Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin beim Ermittlungsrichter, die Frauen zu vernehmen, um eine Aussage zu erhalten, die später in der Hauptverhandllung verwertbar sein würde.

Die Opfer wurden vom Ermittlungsrichter vernommen, wie es die Staatsanwaltschaft beantragt hatte. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer; er war noch nicht über das Ermittlungsverfahren informiert und hatte noch keinen Verteidiger.

Der Ermittlungsrichter schloss den Beschwerdeführer nach § 168 c StPO von der Vernehmung aus. Normalerweise hat der Beschuldigte das Recht, bei der Vernehmung von Zeugen durch den Ermittlungsrichter anwesend zu sein. § 168 c sieht aber vor, dass der Beschuldigte ausgeschlossen werden kann, wenn zu befürchten ist, dass der Zeuge nicht die Wahrheit sagen wird, wenn der Beschuldigte anwesend ist. Der Ermittlungsrichter ging davon aus, dass die beiden Frauen, die sehr verängstigt waren, sich  nicht trauen  würden, die Vorfälle wahrheitsgemäss zu schildern, wenn der  Beschwerdeführer anwesend wäre.

Kurz nach der Vernehmung kehrten die beiden Zeuginnen nach Lettland zurück; der Beschwerdeführer wurde wenig später verhaftet. Die Hauptverhandlung gegen ihn fand vor dem Landgericht Göttingen statt.

Das Landgericht lud die beiden Frauen per Einschreiben als Zeuginnen. Sie antworteten, dass sie nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen würden. Sie legten ein ärztliches Attest vor, dass bescheinigte, dass sie immer noch traumatisiert seien und ihr Zustand nicht stabil sei.

Das Landgericht schriebe die Zeuginnen erneut an. Es wies darauf hin, dass es sie nicht zum Erscheinen zwingen könne. Es könne aber Massnahmen zu ihrem Schutz treffen; alle Kosten für die Anreise und den Aufenthalt in Deutschland würden übernommen werden.

Eine Zeugin antwortete nicht; die andere führte aus, dass sie ihrer Aussage vor dem Ermittlungsrichter nichts hinzuzufügen hätte.

Das Landgericht Göttingen beantragte daher Rechtshilfe und bat, die Zeuginnen vor ein lettisches Gericht zu laden, damit sie über eine Videoverbindung vernommen werden könnten. Das zuständige Gericht in Lettland teile kurze Zeit später mit, die Zeuginnen könnten nicht vernommen werden. Sie hätte ein ärztliches Attest vorgelegt, das besagte, dass sie zur Aussage nicht in der Lage seien. Das Landgericht antwortete, dass die nach deutschem Recht nicht ausreiche, um die Zeuginnen von der Aussage zu entbinden. Es bat, die Zeuginnen von einem Amtsarzt untersuchen zu lassen. Es erhielt keine Antwort.

Das Landgericht beschloss daher, die Protokolle der Vernehmungen der Zeuginnen durch die Polizei und durch den Ermittlungsrichter in der Hauptverhandlung verlesen zu lassen.

Das Landgericht befand den Beschwerdeführer sowohl wegen der Vorgänge in Kassel als auch hinsichtlich der Taten in Göttingen für schuldig und verurteilte ihn zu 9 Jahren 6 Monaten Freiheitsstrafe.

In den Urteilsgründen führte das Gericht aus, es sei sich bewusst, dass der Beweiswert der Aussagen der beiden Zeuginnen geringer sei, weil sich nicht in der Hauptverhandlung ausgesagt hätten. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren keine Möglichkeit gehabt hätte, die Zeuginnen zu befragen. Die Protokolle der Aussagen bei der Polizei und bei dem Ermittlungsrichter zeigten jedoch, dass die Aussagen der Zeuginnen reich an Einzelheiten und zusammenhängend gewesen seien. Kleinere Widersprüche könnten auch dadurch erklärt werden, dass sie nach dem Ereignis psychologisch sehr angespannt gewesen seien. Das Gericht nahm auch zur Kenntnis, dass die Zeuginnen den Beschwerdeführer auf einem Foto bei der Polizei nicht wiedererkannt hätten.

Darüber hinaus stützte sich das Landgericht auf Aussagen von Zeuginnen, denen die beiden lettischen Prostituierten unmittelbar nach der Tat berichtet hatten,  auf GPS-Daten und auf die Aussagen der Polizisten und des Ermittlungsrichters, die die Zeuginnen vernommen hatten.

Der Beschwerdeführer legte zunächst erfolglos Revision beim Bundesgerichtshof und Verfassungsbeschwerde ein. Danach brachte er den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

 

Rechtliche Beurteilung:

Der Beschwerdeführer machte geltend, nach Artikel 6 Absatz 3 (d) EMRK habe er das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen. Dieses Recht sei verletzt worden, denn er habe die Zeuginnen aus Lettland nie befragen können.

Das Recht, Zeugen zu befragen, gehört zu den wichtigsten Verteidigungsrechten des Beschuldigten. Der Beschuldigte (bzw. sein Verteidiger) können die Erinnerung des Zeugen auf die Probe stellen, versuchen, seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern, Widersprüche in den Aussagen herausarbeiten usw. Dies trägt letztlich auch dazu bei, dass das Gericht einen besseren oder vollständigeren Eindruck von der Aussage bekommt und so besser in der Lage ist, sich ein Urteil zu bilden. Da Zeugenbeweise oft massgeblich für den Ausgang eines Strafverfahrens sind, ist das Recht auf Zeugenbefragung ein wichtiger Bestandteil eines fairen Verfahrens.

Allerdings gilt diese Regel nicht ohne Ausnahme. Es gibt Fälle, in denen eine Befragung des Zeugen in der Hauptverhandlung durch den Beschuldigten oder seinen Verteidiger nicht möglich ist – beispielsweise, weil der Zeuge nicht mehr auffindbar ist oder weil es für den Zeugen gefährlich wäre, seine Identität zu offenbaren. In solchen Fällen greifen Gerichte dann häufig auf die Protokolle von Aussagen zurück, die der Zeuge im Ermittlungsverfahren gemacht hat; auch werden Personen, die den Zeugen im Ermittlungsverfahren befragt haben, als Zeuge vernommen und geben wieder, was der Zeuge bei seiner früheren Vernehmung ausgesagt hat.

Der Gerichtshof hat entschieden, dass dieses Vorgehen nicht immer gegen die EMRK verstösst, auch wenn der Beschuldigte dann nicht die Möglichkeit hat, den Zeugen zu befragen.  Der Gerichtshof hat– vor allem im Fall Al Khawaja und Tahery gegen das Vereinigte Königreich – drei Kriterien entwickelt, anhand derer zu prüfen ist, in solchen Fällen ein Verstoss gegen das Recht auf ein faires Verfahren vorliegt. Dies Kriterien sind:

·         Gab es einen guten Grund dafür, dass der Zeuge nicht anwesend war und dafür, dass der Beschuldigte den Zeugen nicht befragen konnte?

·         Ist die Ausssage des abwesenden Zeugen die einzige oder entscheidende Basis für das Urteil?

·         Ist die Beschränkung der Verteidigungsrechte ausreichend kompensiert worden?

 

Allerdings war in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR nicht klar, in welchem Verhältnis diese Kriterien zueinanderstehen. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob stets alle drei Kriterien zu prüfen sind oder ob schon dann eine Verletzung von Artikel 6 EMRK vorliegt, wenn eines der Kriterien nicht erfüllt ist. Mit anderen Worten: Wenn die Prüfung des ersten Kriteriums zu dem Ergebnis führt, dass es keinen guten Grund für die Abwesenheit des Zeugen gab – ist dann automatisch das Recht auf ein faires Verfahren verletzt – oder müssen die beiden anderen Kriterien noch zusätzlich geprüft werden.

Auch wenn die Rechtsprechung des EGMR hierzu nicht eindeutig war, hat der Gerichtshof doch in einigen Entscheidungen (ausdrücklich oder implizit) eine Verletzung schon deshalb angenommen, weil das erste oder zweite Kriterium nicht erfüllt war.

Im Fall Schatschaschwili gegen BR Deutschland hat der Gerichthof nun klargestellt, dass keines der Kriterien für sich genommen entscheidend sei. Vielmehr müssten immer all drei Kriterien geprüft werden und dann unter Berücksichtigung aller Kriterien geprüft werden, ob gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstossen worden sei. Auch wenn es also keinen guten Grund für die Abwesenheit des Zeugen gegeben habe, müsse trotzdem noch geprüft werden, ob der Zeugenbeweis die einzige oder entscheidende Basis für die Verurteilung gewesen sei. Und auch wenn die Aussage eines abwesenden Zeugen nicht die entscheidende Grundlage für die Verurteilung gewesen sei, müsse dennoch geprüft werden, ob die fehlende Befragungsmöglichkeit hinreichend kompensiert worden sei.

Der EGMR führte aus, dies füge sich in seine sonstige Rechtsprechung zum Grundsatz des fairen Verfahrens ein. Der Gerichtshof mache die Fairness von Verfahren nicht an einzelnen Kriterien fest, sondern prüfe stets das gesamte Verfahren auf seine Fairness. Daher sei es konsequent, auch dann auf eine Gesamtbetrachtung abzustellen, wenn der Beschuldigte keine Möglichkeit zur Zeugenbefragung gehabt habe.

Regelmässig sei es geboten, alle drei Kriterien in der oben angegebenen Reihenfolge durchzugehen. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, dass alle drei Kriterien eng miteinander verzahnt seien.

Im konkreten Fall nahm der EGMR an, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Befragung von Belastungszeugen verletzt worden war.

Der Gerichtshof erkannte an, dass das Landgericht alle Anstrengungen unternommen hatte, um eine Aussage der Zeuginnen zu ermöglichen. Er ging davon aus, dass es deshalb gute Gründe für die Abwesenheit gegeben hatte.

Der Gerichtshof führte aus, dass sich aus dem Urteil in Deutschland nicht ausdrücklich ergebe, ob die Aussagen der Zeuginnen die einzige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung gewesen seien (das Landgericht hatte den Begriff „massgeblich“ benutzt). Der EGMR war der Auffassung, dass es noch andere Beweismittel gegeben hatte, auf die das Landgericht das Urteil gestützt hatte. Allerdings handelte es sich dabei aus Sicht des Gerichtshofes eher um Indizienbeweise (wie beispielsweise die GPD-Daten). Diese bewiesen allerdings nach Meinung des EGMR lediglich die Anwesenheit des Beschwerdeführers am Tatort und nicht das Geschehen als solches. Darauf folgerte der Gerichtshof, dass die Aussagen der abwesenden Zeuginnen entscheidend für die Urteilsfindung gewesen seien.

Aus Sicht des Gerichtshofs war die fehlende Möglichkeit, die Zeuginnen zu befragen, nicht hinreichend kompensiert worden. Zwar habe der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt, seine Version der Vorgänge zu präsentieren. Auch habe das Landgericht die Glaubhaftigkeit der Aussagen der beiden abwesenden Zeuginnen sorgfältig geprüft. Es sei aber zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nicht einmal im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit gehabt habe, die Zeuginnen zu befragen. Der Ermittlungsrichter hätte die Möglichkeit gehabt, einen Verteidiger beizuordnen, der die Interessen des Beschwerdeführers bei der Vernehmung vor dem Ermittlungsrichter hätte wahrnehmen können. Dies sei jedoch nicht geschehen. Daher fehle es an hinreichenden Massnahmen, um die Nachteile der Verteidigung auszugleichen, vor allem im HInblick auf die grosse Bedeutung der Aussage im Ermittlungsverfahren.

Unter Abwägung all dieser Faktoren kam der EGMR zu der Überzeugung, dass Artikel 6 Absatz 3 EMRK verletzt worden war.

 

Schatschaschwili gegen BR Deutschland, Urteil vom 15.12.2015, Beschwerde Nr. 9154/10

 

Filed Under: Allgemein Tagged With: Artikel 6 EMRK, Deutschland, Faires Verfahren, Recht auf Zeugenbefragung

30. November 2015 by Holger Hembach Leave a Comment

Äusserungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK und Reputation – Annen gegen BR Deutschland

Im Fall Annen gegen BR Deutschland  hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erneut deutlich gemacht, dass für Äusserungen, die zur politischen Debatte beitragen, nur wenige Beschränkungen möglich sind.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war ein Aktivist, der Abtreibungen scharf ablehnt. Er verteilte in der unmittelbaren Umgebung einer Tagesklinik, die von zwei Ärzten betrieben wurde, Flugblätter. Auf diesen Flugblättern  stand zunächst in fettgedruckten Buchstaben „in der Tagesklinik von Dr. M und Dr. R. werde illegale Abtreibungen durchgeführt“. Beide Ärzte wurden dabei mit vollem Namen und Adresse genannt.  Dann folgte ohne Fettdruck der Zusatz „die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt. Der Beratungsschein schützt „Arzt“ und Mutter vor Strafverfolgung, aber nicht vor der Verantwortung vor Gott.“

In einer gesonderten Box stand: “Sinngemӓβ aus den internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsӓtzliche “Zu-Tode-Bringen” eines unschuldigen Menschen!” Das Flugblatt enthielt ausserdem ein Zitat aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und ein Zitat von Goethes Leibarzt.

Auf der Rückseite des Faltblattes stand „Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.”

Darunter befand sich ein Link zu der Webseite „babycaust“, die von dem Beschwerdeführer betrieben wurde. Auf dieser Webseite  befand sich in der Rubrik „Gebetsanliegen für Deutschand“ eine Liste sogenannter „Abtreibungsärzte“ mit vollständiger Adresse. Dr. M und Dr. R waren dabei genannt.

Die beiden Ärzte, deren Namen in dem Flugblatt genannt waren, beantragten eine einstweilige Verfügung, um es dem Beschwerdeführer verbieten zu lassen, die Flugblätter zu verteilen und ihre Namen und Adresse auf der Webseite zu veröffentlichen.

Das Landgericht erliess die beantragte einstweilige Verfügung. Es führte aus, das Flugblatt erwecke den unzutreffenden Eindruck, dass in der Tagesklinik der beiden Ärzte rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt würden. Zwar werde auf dem Flugblatt klargestellt, dass die Abtreibungen nach deutschem Recht legal seien. Dies geschehe aber nur mit kleinerer Schrift. Der Eindruck, der beim Beobachter haften bleibe, sei aber der fettgedruckte Vorwurf rechtswidriger Abtreibungen. Auch habe es eine besondere Prangerwirkung, die beiden Ärzte gesondert herauszustellen. Das gleiche gelte im Prinzip auch für die Erwähnung der Ärzte auf der Webseite. Diese stelle durch ihren Namen die Verbindung zum Holocaust dar, so dass der Beschwerdeführer letztlich die Ärzte so darstelle, als begingen sie Verbrechen, die mit dem Holocaust vergleichbar seien. Dies sei nicht mehr durch die Meinungs- und Äusserungsfreiheit gedeckt.

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen die einstweilige Verfügung ein. Das Oberlandesgericht bestätigte jedoch die einstweilige Verfügung. Nach Auffassung des Oberlandesgerichtes war es  nicht notwendig, zu entscheiden, ob das Flugblatt und die Webseite Meinungsäusserungen seien. Selbst wenn es sich um Meinungsäusserungen handele, müsse die Meinungsfreiheit jedenfalls zurücktreten, weil das Persönlichkeitsrecht der Ärzte überwiege. Das Flugblatt erwecke den falschen Eindruck, dass in der Tagesklinik ungesetzliche Abtreibungen vorgenommen würden. Es könne von juristischen Laien wie den Lesern des Flugblattes nicht erwartet werden, zwischen rechtmässigen Abtreibungen und solchen Abtreibungen zu unterscheiden, die zwar rechtswidrig seien, aber strafrechtliche nicht verfolgt würden.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichtes war es nicht notwendig, dass die beiden Ärzte im Verfahren die Webseite dem Gericht vorlegten. Der Inhalt der Webseite sei frei zugänglich und jeder könne sich über ihren Inhalt informieren. Ausserdem habe der Beschwerdeführer selbst eingeräumt, die beiden Ärzte als „Abtreibungsärzte“ bezeichnet zu haben

Das Oberlandesgericht liess keine Rechtsmittel gegen seine Entscheidung zu. Der Bundesgerichtshof lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe ab. Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein, die aber nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Allerdings gab es noch eine weitere Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, die einen ähnlichen Sachverhalt betraf. Das Landgericht und Oberlandesgericht München hatten dem Beschwerdeführer die Verteilung eines ähnlichen Flugblattes in München verboten. Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass das Verbot die Meinungs- und Äusserungsfreiheit verletze. Das Bundesverfassungsgericht hatte ausgeführt, der Arzt durch das Flugblatt nicht erheblich an sozialer Reputation verloren. Er habe selbst auf seiner Webseite annonciert, dass er Abtreibungen durchführe. Auch habe der Beschwerdeführer den Arzt keiner illegalen Aktivitäten beschuldigt.

Der Beschwerdeführer legte Beschwerde beim EGMR ein.

Rechtliche Beurteilung

Der EGMR prüfte, ob es mit Artikel 10 EMRK zu vereinbaren war, dass die zuständigen deutschen Gerichte es dem Beschwerdeführer verboten hatten, die Flugblätter zu verteilen und den Namen der Ärzte als „Abtreibungsärzte“ auf der Webseite zu veröffentlichen.

Eingriffe in das Recht auf Meinungs- und Äusserungsfreiheit sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie eine gesetzliche Grundlage haben, einem legitimen Ziel dienen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Der EGMR stellte kurz fest, es eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff gab und dass er dem Schutz der Reputation der betroffenen Ärzte diente. Darüber waren sich auch alle Beteiligten einig gewesen. Die entscheidende Frage war, ob das Verbot als „in einer demokratischen Gesellschaft anzusehen war.

Der Gerichtshof rekapitulierte kurz prägende Grundsätze seiner Rechtsprechung zu Artikel 10 EMRK: Meinungs- und Äusserungsfreiheit in sind in einer demokratischen Gesellschaft fundamental wichtig. Sie schützen nicht nur solche Äusserungen, die auf Billigung stossen oder belanglos sind, sondern auch auf solche Äusserungen, die als schockierend, beleidigend oder verstörend empfunden werden. Es gibt zwar Grenzen der Meinungsfreiheit, diese müssen aber überzeugend begründet werden.  Begrenzungen sind nur dann erlaubt, wenn es ein dringendes soziales Bedürfnis dafür gibt.

Der EGMR betonte, dass es nur wenig Raum für Beschränkungen der Äusserungsfreiheit gibt, wenn die in Rede stehend Äusserung einen Beitrag zu einer politischen Debatte darstellt oder sich auf Fragen bezieht, an denen ein öffentliches Interesse besteht.

Allerdings führte der Gerichtshof auch aus, dass auch die Reputation den Schutz der EMRK geniesst (Artikel 8 EMRK). Wenn es zu Konflikten zwischen der Äusserungsfreiheit und der Reputation komme, müsse der EGMR überprüfen, ob die nationalen Gericht die Abwägung zwischen den beiden Rechten richtig vorgenommen hätten.

Der EGMR verwies darauf, dass die deutschen Gerichte ihre Argumentation unter anderem darauf gestützt hätten, dass der Beschwerdeführer den Eindruck erweckt hätte, die Ärzte führten rechtswidrige Abtreibungen durch. Allerdings verwies der EGMR darauf, dass die Abtreibungen tatsächlich streng genommen rechtswidrig seien. Nach deutschem Recht sei nämlich die Abtreibung durch nach Beratung zwar rechtswidrig, werde aber nicht strafbar (siehe § 218 a StGB). Allein die optische Darstellung auf dem Flugblatt veranlasse einen vernünftigen Leser nicht zu der Schlussfolgerung, den Ärzten würde Gesetzesbruch vorgeworfen. Denn es werde ja, wenn auch nicht in Fettdruck, klargestellt, dass das Verhalten der Ärzte nicht strafbar sei.

Auch aus dem Verweis auf den Holocaust lasse sich nicht herleiten, dass die Meinungsfreiheit hinter dem Schutz der Reputation der betroffenen Mediziner zurücktreten müsse. Durch die Formulierung auf dem Flugblatt werde die Abtreibung nämlich dem Holocaust nicht gleichgestellt. Vielmehr könne das Flugblatt auch so interpretiert werden, dass es deutlich machen wolle, dass auch ein Verhalten, dass nicht strafbar sei moralisch verwerflich sein könne.

Die Flugblätter wäre ein Beitrag zu einer besonders wichtigen öffentlichen Debatte gewesen. In dieser Situation müsse es dem Beschwerdeführer zugestanden werden, seine Argument in einer besonders effektiven Weise darzustellen.

Aufgrund dieser Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Artikel 10 EMRK durch das Verbot der Verteilung der Flugblätter vorliege.

Darüber hinaus sah der EGMR eine Verletzung darin, dass es dem Beschwerdeführer verboten worden war, die Namen der Ärzte auf einer Webseite als „Abtreibungsärzte“ zu nennen. Der EGMR stützte sich hierbei vor allem auf ein prozessuales Argument. Das Oberlandesgericht habe das Verbot bestätigt, ohne die Webseite überhaupt im Detail zu kennen. Der Inhalt Webseite sei jedenfalls nicht aktenkundig. Allein der Umstand, dass die Webseite durch ihren Namen einen Bezug zum Holocaust herstelle, reiche aber für ein Verbot nicht aus. Auch habe das Oberlandesgericht nicht sorgfältig argumentiert, sondern im wesentlichen auf die Gründe verwiesen, die es zu seiner Entscheidung bezüglich der Flugblätter bewogen hätten.  Dies reiche aber nicht aus.

Aus diesem prozessualen Grund stellte der EGMR auch bezüglich des Verbots der Webseite einen Verstoss gegen Artikel 10 EMRK fest.

Urteil vom 26.11.2015, Beschwerde Nr. 3690/10

Filed Under: Allgemein Tagged With: Artikel 10 EMRK, Äusserungsfreiheit, Deutschland, Reputation

24. November 2015 by Holger Hembach Leave a Comment

Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK und Widerruf der Bewährung

Welche Bedeutung hat die Unschuldsvermutung, wenn ein Gericht eine Bewährung wegen einer neuen Tat widerrufen möchte? Mit dieser Frage hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall El Kaada gegen BR Deutschland auseinandergesetzt.

Das deutsche Strafrecht sieht vor, dass Gefängnisstrafen unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden können. Das bedeutet, dass der Angeklagte zwar verurteilt wird, tatsächlich aber seine Freiheitsstrafe nicht antreten muss. Vielmehr kann er über einen bestimmten Zeitraum, den das Gericht bestimmt, beweisen, dass er in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen (Bewährungszeit). Begeht der Verurteilte in dieser Zeit keine neuen Straftaten, muss er seine Freiheitsstrafe endgültig nicht verbüssen. Wenn er allerdings eine neue Straftat begeht, kann  die Bewährung widerrufen werden. Der Verurteilte muss also die ursprüngliche Freiheitsstrafe antreten – und kann darüber hinaus natürlich weiterhin wegen der neuen Straftat belangt werden, die er in der Bewährungszeit begangen hat.

Regelungen über die Bewährung gibt es sowohl im Erwachsenenstrafrecht als auch im Jugendstrafrecht. Bei Erwachsenen können Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Verhängt das Gericht eine Strafe von bis zu einem Jahr, ist die Strafausetzung zur Bewährung die Regel; bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren müssen besondere Umstände vorliegen, die die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen (§ 56 StGB). Für Jugendliche findet sich eine parallele Regelung im § 21 JGG.

Im Fall  El Kaada gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage auseinandergesetzt, welche Anforderungen an die Feststellung der neuen Straftat zu stellen sind, derentwegen die Bewährung widerrufen werden soll.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde zunächst durch das Amtsgericht Gladbeck wegen verschiedener Straftaten wie Körperverletzung, Diebstahl und Untreue zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Amtsgericht wendete Jugendstrafrecht an; die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht machte dem Beschwerdeführer zur Auflage, keine weiteren Straftaten zu begehen und gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte das Gericht darüber, dass er den Beschwerdeführer auch bezüglich der Bewährung weiterhin vertreten werde.

Einige Monate wurde erneut ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Diebstahls geführt. Das Amtsgericht Gladbeck erliess einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Er wurde verhaftet und am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt.

Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte die Staatsanwaltschaft, dass er den Beschwerdeführer in dem Ermittlungsverfahren vertrete. Der Brief des Anwalts ging am gleichen Tag bei der Staatsanwaltschaft ein, an dem der Beschwerdeführer dem Haftrichter vorgeführt wurde. Bei der Vernehmung des Beschwerdeführers durch den Haftrichter war der Anwalt nicht anwesend.

Der Beschwerdeführer gestand gegenüber dem Haftrichter den Diebstahl und äusserte sich auch zu Einzelheiten der Tat.

Kurz darauf widerrief er das Geständnis bei einem Haftprüfungstermin in Anwesenheit seines Anwalts. Er erklärte, er hätte das Geständnis nur abgelegt, weil ein Polizist ihm gesagt habe, bei einem Geständnis würde er nicht in Untersuchungshaft kommen.

Zwei Tage später widerrief das Amtsgericht die Bewährung. Zur Begründung führte es aus, dem Beschwerdeführer sei zur Auflage gemacht worden, keine neuen Straftaten zu begehen. Dennoch habe der Beschwerdeführer einen Diebstahl begangen. Dies ergebe sich aus seinem Geständnis.

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen den Widerruf der Bewährung ein. Er brachte unter anderem das Argument vor, es verstosse gegen die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK, wenn die Bewährung wegen einer Tat widerrufen werde, für die er noch nicht verurteilt worden sei.

Das Landgericht liess sich davon aber nicht überzeugen. Nach seiner Auffassung war der Widerruf der Bewährung gerechtfertigt. Der Widerruf wegen einer neuen Straftat setze nicht voraus, dass der Betroffene wegen dieser Straftat rechtskräftig verurteilt worden sei. Vielmehr könne das zuständige Gericht sich auch mit anderen Mitteln davon überzeugen, dass eine neue Straftat begangen worden sei. Es reiche aus, wenn der Betroffene die Straftat vor einem Richter gestanden habe. Die Unschuldsvermutung stehe dem nicht entgegen. Sie gelte nur in Strafverfahren gegen den Betroffenen; wenn es um den Widerruf der Bewährung gehe, sei sie dagegen nicht anwendbar.

Das Gericht führte aus, es hege keine Zweifel an der Richtigkeit des ursprünglichen Geständnisses, zumal der Beschwerdeführer sich auch zu Einzelheiten der Tat geäussert habe und diese Einzelheiten zu dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen gepasst hätten.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Daraufhin legte der Beschwerdeführer Menschenrechtsbeschwerde ein.

 

Rechtliche Beurteilung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte klar, dass die Unschuldsvermutung – entgegen der Auffassung des Landgericht – nicht nur auf Strafverfahren gegen einen Beschuldigten anwendbar sei. Die Unschuldsvermutung sei ein wesentlicher Bestandteil eines fairen Verfahrens und diene dazu, vorverurteilende Aussagen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zu verhindern. Artikel 6 Absatz 2 EMRK schütze den Beschuldigten umfassend davor, durch staatliche Stellen ausdrücklich oder implizit als schuldig dargestellt zu werden. Daher sei die Unschuldsvermutung immer dann verletzt, wenn offizielle Stellen ausdrücklich sagten oder den Eindruck erweckten, dass eine Person einer Straftat schuldig sei, bevor diese Person verurteilt worden sei.

Das Amtsgericht und das Landgericht hätten die Bewährung widerrufen, weil der Beschwerdeführer eine neue Straftat begangen habe. Damit hätten sie den Beschwerdeführer schon vor seiner Verurteilung als schuldig behandelt. Dies verletzte die Unschuldsvermutung.

Damit bestätigte der EGMR die Grundsätze, die er bereits im Urteil Böhmer gegen Deutschland beschrieben hatte. Die Bundesregierung führte aus, der Fall Böhmer habe anders gelegen. Dort habe es sich um einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach Erwachsenenstrafrecht gehandelt. Im vorliegenden Fall gehe es dagegen um den Widerruf bei einem Jugendlichen nach § 26 JGG.

Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Nach Auffassung des Gerichtshofs bestehe sachlich kein Unterschied zwischen dem Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Tat im Erwachsenstrafrecht und im Jugendstrafrecht.

Nach Auffassung des EGMR war der Widerruf auch nicht durch das Geständnis des Beschwerdeführers gerechtfertigt. Der Gerichtshof verwies darauf, dass der Beschwerdeführer das Geständnis in Abwesenheit seines Rechtsanwaltes abgelegt hatte und es später im Beisein seines Verteidigers widerrufen hatte. Jedenfalls deshalb konnte der Widerruf der Bewährung nach Auffassung des EGMR nicht auf das Geständnis gestützt werden.

Im Ergebnis hat der EGMR also unterstrichen, dass ein Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Straftat voraussetzt, dass der Beschuldigte wegen dieser Straftat verurteilt worden ist.

Urteil vom 12.11.2015, Beschwerde Nr. 2130/10

Filed Under: Allgemein Tagged With: Artikel 6 EMRK, Deutschland, Recht auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung, Widerruf der Bewährung

  • « Previous Page
  • 1
  • 2

Newsletter

Newsletter

  • Datenschutzerklärung
  • Impressum

Copyright © 2019 · Executive Pro Theme on Genesis Framework · WordPress · Log in