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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Artikel 6 EMRK

Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren – Dridi gegen Deutschland

Holger Hembach · 3. August 2018 ·

Zur EMRK gibt es umfangreiche und differenzierte Rechtsprechung. Ob ein Verstoß gegen die Konvention vorliegt, ist häufig schwer festzustellen, und oft lässt sich kaum vorhersagen, wie der EGMR entscheiden wird. In einigen Fällen liegt die Konventionsverletzung aber offen zutage. Der Fall Dridi gegen Deutschland gehört meines Erachtens eher in die zweite Kategorie. In diesem Fall stellte der Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Strafverfahren eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest.

Sachverhalt:

 Der Beschwerdeführer war 2009 vom Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen verurteilt worden. In diesem Verfahren wurde er von einem Jurastudenten vertreten (die Strafprozessordnung sieht vor, dass in bestimmten Fällen mit Genehmigung des Gerichts auch Personen als Verteidiger auftreten dürfen, die keine Rechtsanwälte oder Hochschullehrer sind, § 138 Abs. 2 StPO).  

Der Beschwerdeführer legte Berufung ein. Er beantragte auch, ihn von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Berufungsverhandlung zu entbinden. Auch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, die sie auf das Strafmaß beschränkte.

Nach Einlegung der Berufungen zog der Beschwerdeführer nach Spanien. Er informierte das Gericht über seine dortige Adresse.

Das Landgericht Hamburg zog am 24.04.2009 die Genehmigung, dass der Jurastudent als Verteidiger auftreten durfte, zurück. Es wies auch den Antrag zurück, den Beschwerdeführer von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Diese Entscheidung schickte das Gericht den Beschwerdeführer an seine Adresse in Spanien.

Am gleichen Tage beraumte es die Berufungsverhandlung für den 13.05.2009 an. Das Landgericht entschied, den Beschwerdeführer zu dieser Verhandlung über eine öffentliche Zustellung zu laden. Dabei wird die Ladung bei Gericht ausgehängt und der Angeklagte gilt nach zwei Wochen als ordnungsgemäß geladen.

Einen Tag vor der Verhandlung erfuhr der Student, der den Beschwerdeführer verteidigt hatte, per Telefon, dass das Oberlandesgericht die Entscheidung aufgehoben hatte, seine Genehmigung zum Auftreten als Verteidiger zurückzuziehen. Er erfuhr auch, dass die Hauptverhandlung über die Berufung am folgenden Tage stattfinden sollte.

Der Verteidiger beantragte daher per Fax, die Hauptverhandlung zu vertagen, weil er am nächsten Tag nicht in der Stadt sein werde. Darüber hinaus beantragte er, dass ihm Dokumente aus der Akte – vor allem die Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft – übersandt werden sollten. Das Gericht versuchte, die Dokumente per Fax zu übersenden, was aber nicht gelang, weil das Faxgerät des Verteidigers keine Dokumente empfangen konnte.

Am 13.05.2009, also am Tag der Hauptverhandlung, wie das Landgericht den Antrag auf Verlegung der Hauptverhandlung zurück. Es führte aus, der Rechtsanwalt habe auf sein Recht auf Ladung innerhalb der vorgesehenen Frist verzichtet, weil ihm der Termin der Hauptverhandlung bekannt gewesen sei (wie sich aus seinem Fax vom Vortag ergebe).

Das Landgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers, weil der Beschwerdeführer ohne Entschuldigung nicht erschienen sei und auch nicht von einem Verteidiger vertreten worden sein.

Der Beschwerdeführer beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Landgericht wies den Antrag zurück. Es führte aus, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung vorgelegen hätten. Der Verteidiger hätte auf die Ladungsfrist verzichtet und sein Antrag auf Verlegung des Termins hätte sich nicht auf die Nichteinhaltung der Ladungsfrist sondern auf Terminprobleme geschützt, die er nicht näher beschrieben hätte.

Das Oberlandesgericht bestätigte diese Entscheidung.

Der Beschwerdeführer legte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein; das Bundesverfassungsgericht nahm diese ohne Begründung nicht zur Entscheidung an.

 

Rechtliche Beurteilung:

Verstoß gegen Artikel 6 Abs.1 und Abs. 3 c) EMRK

Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Art. 6 Abs. 1 und Absatz 3 c) der EMRK. Art. 6 Abs. 1 regelt das Recht auf ein faires Verfahren; der dritte Absatz des Artikels hat bestimmte Aspekte dieses Rechts zum Gegenstand. Buchstabe c) dieses Absatzes garantiert das Recht, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer zum Erscheinen in der Berufungsverhandlung verpflichtet gewesen war und dass die Berufung verworfen worden war, weil er nicht erschienen war. Er führte aus, dass die Adresse des Beschwerdeführers in Spanien dem Landgericht bekannt gewesen war, dass eine vorherige Entscheidung erfolgreich an diese Adresse zugestellt worden war. Auch habe es keine erfolglosen Versuche gegeben, den Beschwerdeführer Dokumente zuzustellen. Der Beschwerdeführer sei auch sonst nicht darauf hingewiesen worden, dass ihm eine Ladung durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt worden sei – obwohl Art. 5 der EU Konvention über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen vom 29.05.2000 eine Übersendung mit der Post vorsehe. Außerdem habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Ladung keinen Verteidiger gehabt, weil zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung noch in Kraft gewesen sei, dass der Student ihm nicht vertreten dürfe. Aufgrund dieser Erwägungen sei der Gerichtshof davon überzeugt, dass die öffentliche Zustellung der Ladung nicht genug gewesen sei, um den Beschwerdeführer in die Lage zu versetzen, der Hauptverhandlung in seiner Sache beizuwohnen.

Insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 vor

 

Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 b) EMRK

Darüber hinaus stützte sich der Beschwerdeführer auf Art. 6 Abs. 3 b), der das Recht garantiert, ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu haben.

Der Gerichtshof führte aus, der Verteidiger habe erst einen Tag vor der Hauptverhandlung erfahren, dass diese am nächsten Tag stattfinden sollte. Er habe nicht über eine Kopie der Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft verfügt der Verteidiger habe eine Vertagung beantragt; dieser Antrag sei aber zurückgewiesen worden. Insofern könne man nicht davon ausgehen, dass der Verteidiger auf sein Recht auf fristgemäße Ladung verzichtet habe und dass er in der Lage gewesen sei, sich auf die Verteidigung vorzubereiten und an der Hauptverhandlung teilzunehmen.

Auch insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ist die Verzögerungsrüge nach § 198 GVG ein effektives Rechtsmittel?

Holger Hembach · 2. Juni 2017 ·

Artikel 6 EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren „innerhalb angemessener Frist“.  Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat daraus und aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK) gefolgert, dass Staaten verpflichtet sind, ein Rechtsmittel zu schaffen, mit sich Verfahrensbeteiligte gegen allzu lange Verfahren zur Wehr setzen können (siehe zum Beispiel den Fall Kudla gegen Polen)

In Deutschland war das lange Zeit nur mit einer Verfassungsbeschwerde möglich. Der EGMR hat dann aber entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde für überlange Verfahren kein effektives Rechtsmittel sei.  Der Gesetzgeber hat daher in § 198 GVG einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren aufgenommen.  Nach dieser Vorschrift kann es ein Verfahrensbeteiligter rügen, wenn ein Verfahren zu lange dauert. Erleidet er durch die überlange Dauer des Verfahrens einen Nachteil, hat der Verfahrensbeteiligte einen Anspruch auf Entschädigung. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Verfahren zu lange dauert, verweist das Gesetz auf die Kriterien, die der EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelt hat (Schwierigkeit des Verfahrens, Verhalten des Verfahrensbeteiligten und Dritter, Bedeutung der Angelegenheit).

Ob diese Regelung effektiv ist, ist fraglich. Zum einen möchte ein Beteiligter an einem Rechtsstreit ja keine Entschädigung, sondern ein zügiges Verfahren. Zum anderen sorgt der Umgang vieler Gerichte mit der Verzögerungsrüge dafür, dass diese letztlich nutzlos ist. Der bekannte Rechtsanwalt Detlef Burhoff hat kürzlich in seinem Blog auf eine Entscheidung des OLG Frankfurt hingewiesen. Dabei ging es um eine Entscheidung über eine Maßnahme im Strafvollzug, für die das Gericht acht Monate und sieben Tage benötigt hatte. Das OLG sah das zwar als zu lang an, schrieb aber in der Begründung, dass die Verfahrensführung eines Gerichts wegen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüft werden könne. In der Regel sei ein Verfahren deshalb nicht unangemessen lang, wenn das Gericht innerhalb eines Jahres ab Entscheidungsreife eine Entscheidung fälle.

„Entscheidungsreife“ bedeutet, dass alle Voraussetzungen gegeben sind, um die Entscheidung zu treffen. Danach soll das Gericht dann ein Jahr Zeit haben, um tatsächlich zu entscheiden.

In Anbetracht solcher Ausführungen fragen sich viele, ob die Verzögerungsrüge nach § 198 GVG ihren Zweck erfüllt. Derzeit beschäftigt sie auch den EGMR. Er hat die BRD über den Fall Erwin Zacharias gegen BR Deutschland informiert. Wenn der EGMR nach einer ersten Prüfung einer Beschwerde der Ansicht ist, dass der Fall näherer Prüfung bedarf, informiert er den Staat, gegen den sich die Beschwerde richtet. Er fasst die Fakten kurz zusammen und stellt den Verfahrensbeteiligten Fragen zu den rechtlichen Problemen, die er wichtig für die Entscheidung ansieht. In diesem Fall stellte er die Frage, ob die Verzögerungsrüge nach § 198 GVG ein effektives Rechtsmittel sei.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Artikel 6 EMRK – Marc Brauer gegen Deutschland

Holger Hembach · 2. September 2016 ·

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine „Superrevisionsinstanz“. Er prüft nicht, ob deutsche Gerichte das deutsche Recht richtig angewandt haben. Er kontrolliert aber die Einhaltung der EMRK durch die Vertragsstaaten. Dazu gehört auch, dass er prüft, ob die Auslegung oder Anwendung eines deutschen Gesetzes im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. Das kann dazu führen, dass er im Ergebnis eben doch die Auslegung einer Vorschrift des deutschen Rechts beanstandet.

Ein Beispiel hierfür ist das Urteil im Fall Marc Brauer gegen Deutschland. In diesem Fall verstieß die Verweigerung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO) gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hatte bereits seit Jahren psychische Probleme. Im Jahr 2012 wurde er festgenommen, weil er vor einem Gericht mit einem Hammer Autos beschädigt hatte. Er wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Am 18.12.2012 urteilte das Landgericht Münster, dass er die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hatte. Es ordnete die Einweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus an. Der Pflichtverteidiger und der Betreuer des Beschwerdeführers waren bei der Verkündung des Urteils anwesend.

Der Beschwerdeführer reagierte sehr erregt. Er äußerte, dass er nicht mehr von seinem Verteidiger vertreten werden wollte und dass er selbst Revision gegen das Urteil einlegen wolle. Der Vorsitzende Richter informierte ihn, dass dies nicht sofort möglich sei. Er informierte ihn auch darüber, innerhalb welcher Frist und in welcher Form er das Rechtsmittel einlegen könne.

Der Beschwerdeführer wurde in das psychiatrische Krankenhaus gebracht. Er beruhigte sich kurze Zeit später.

Am 19.12.2012 schrieb der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers diesem einen Brief. Der Verteidiger teilte mit, er respektiere den Wunsch des Beschwerdeführers nach einem neuen Anwalt und lege daher das Mandat nieder.

Der Verteidiger fügte einige Hinweise zur Einlegung der Revision hinzu. Er teilte mit, der Beschwerdeführer könne binnen einer Woche, also bis zum 27.12., Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster einlegen. Revisionen könnten entweder schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden.

Da der Beschwerdeführer nicht in Freiheit sei, komme die Vorschrift des § 299 StPO auf ihn zur Anwendung. Die bedeute, dass er Erklärungen bezüglich auf Rechtsmittel bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts einlegen könne, in dessen Bezirk die Anstalt liege, in der er seinen Aufenthalt habe. Daher sei das Amtsgericht Rheine zuständig. Nach § 299 Abs. 2 genüge es zur Fristwahrung, wenn das Protokoll innerhalb der Frist aufgenommen werde.

Der Pflichtverteidiger fügte auch Erläuterungen zur Begründung der Revision hinzu.

Der Brief des Verteidigers ging dem Beschwerdeführer am 21.12.2012 zum. Am gleichen Tag schrieb er einen Brief an das Amtsgericht Rheine, in dem er Revision einlegte. Das Personal des psychiatrischen Krankenhauses sandte diesen Brief am nächsten Tag ab.

Der Brief ging am 28.12.2012 beim Amtsgericht Rheine ein. Er wurde von dort sofort an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo er am 03.01.2013 einging.

Das Landgericht informierte den Beschwerdeführer, dass die Revision verspätet eingelegt worden war.

Der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers, der seine Arbeit für den Beschwerdeführer wieder aufgenommen hatte, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird jemandem, der eine Frist für ein Rechtsmittel versäumt hat, die Möglichkeit gegeben die versäumte Handlung doch noch nachzuholen. Die Voraussetzung dafür ist, dass er die Frist ohne Verschulden versäumt hat.

Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer habe die Hinweise zur Einlegung der Revision missverstanden. Er habe geglaubt, er könne die Revision beim Amtsgericht Rheine entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einlegen.

Der Generalbundesanwalt erklärte zur Revision, die Hinweise des Verteidigers seien missverständlich gewesen. Sie hätten dahingehend verstanden werden können, dass die Revision beim Amtsgericht Rheine wahlweise zur Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich hätte eingelegt werden können.

Der Beschwerdeführer sei jedoch vom Gericht am Tag der Urteilsverkündung über die Modalitäten einer Revisionseinlegung belehrt worden. Dies sei hinreichend.

Der Verteidiger des Beschwerdeführers erwiderte, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Er habe sich offensichtlich nach der Verkündung des Urteils in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass er die Erläuterungen des Vorsitzenden Richters zur Einlegung der Revision nicht richtig verstanden habe.

Der Bundesgerichtshof verwarf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf gleichzeitig die Revision, weil der Beschwerdeführer die Frist nicht gewahrt habe (Beschluss vom 24.04.2013, 4 StR 86/13). Der Beschwerdeführer sei ausführlich darüber belehrt worden, wie die Revision einzulegen sei. Dafür, dass er diese Erläuterungen nicht richtig verstanden habe, sei er selbst verantwortlich. Außerdem sei er von seinem Verteidiger auf die korrekte Form der Revisionseinlegung hingewiesen worden. Der Inhalt des Briefes des Verteidigers sei nicht missverständlich, sondern gebe die Gesetzeslage zutreffend wieder.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese nicht zur Entscheidung an, ohne den Beschluss zu begründen.

Rechtliche Beurteilung

Der EGMR prüfte die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.

Er wies darauf hin, dass Artikel 6 EMRK auch den Zugang zu einem Gericht garantiere. Dieses Recht gelte nicht absolut. Es könne beschränkt werden, beispielsweise durch Fristen oder durch formale Anforderungen an ein Rechtsmittel. Die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht müssten jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und proportional zu dem angestrebten Zweck sein.

Es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, Vorschriften des nationalen Rechts einschließlich der prozessualen Regeln zu interpretieren. Es sei jedoch Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob die Beschränkungen des Zugangs zu einem Gericht noch im Einklang mit der EMRK stünden.

Der Beschwerdeführer habe das Rechtsmittel bei dem falschen Gericht eingelegt. Es komme darauf an, ob das Verschulden des Beschwerdeführers es rechtfertige, ihm den Zugang zu einer weiteren Instanz zu verweigern. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer zwangsweise in einem psychiatrischen Hospital gewesen sei und deshalb besonders verletzlich oder schutzwürdig gewesen sei. Auch wenn der Verteidiger des Beschwerdeführers darauf nur kurz hingewiesen habe, sei dies dem Bundesgerichtshof aufgrund der Verfahrensakte bekannt gewesen.

Der Beschwerdeführer habe zwar einen Verteidiger gehabt. Dieser habe jedoch sein Mandat niedergelegt, als der Beschwerdeführer habe das Revision einlegen wollen. Da jedoch das Mandat eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht nur durch Gerichtsbeschluss beendet werde könne, habe immer noch ein Mandatsverhältnis bestanden. Der Verteidiger habe jedoch den Beschwerdeführer nicht bei der Einlegung der Revision unterstützt, sondern ihm lediglich schriftlichen Rat erteilt. Dieser sei zudem missverständlich gewesen.

Es sei grundsätzlich wünschenswert, Vorschriften über Fristen strikt anzuwenden, um Rechtssicherheit zu erreichen. In Ausnahmefällen müsse aber eine gewisse Flexibilität gezeigt werden um zu gewährleisten, dass der Zugang zu einem Gericht nicht in einem Maß beeinträchtigt werde, das gegen Artikel 6 EMRK verstoße. Auch wenn die genannten Umstände nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fielen, minderten sie doch die Verantwortung des Beschwerdeführers.

Die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe deshalb den Zugang des Beschwerdeführers in einem solchen Umfang verletzt, dass die Essenz dieses Rechtes beeinträchtigt worden sei. Der EGMR stellte deshalb eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

Marc Brauer gegen Deutschland, Urteil vom 01.09.2016, Beschwerde Nr. 24062/13

Faires Verfahren und Besorgnis der Befangenheit – Urteil des EGMR im Fall Mitrov gegen Mazedonien

Holger Hembach · 9. Juni 2016 ·

Das Recht auf ein faires Verfahren garantiert unter anderem, dass der Prozess vor einem unabhängigen und unparteilichen Gericht stattfindet.  Im Fall Mitrov gegen Mazedonien hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht mit der Befangenheit von Richtern auseinandergesetzt.

 

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war im Jahre 2006 mit seinem Auto in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Bei diesem Unfall starb ein 18-jähriges Mädchen. Die Mutter des Opfers war Richterin beim Gericht in Strumica (im Süden Mazedoniens in der Nähe der Bulgarischen Grenze). Bevor sie Richterin geworden war, war sie fünf Jahre lang die juristische Mitarbeitern eines Richters am Gericht in Strumica gewesen.  Dieser Richter stand nun der Abteilung für Strafsachen des Gerichts vor, der sieben Richter angehörten.

Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Die Richter, die über den Fall entscheiden sollten, gehörten der Abteilung für Strafsachen an – ebenso, wie die Mutter des Opfers. Der Anwalt des Beschwerdeführers schrieb an den Präsidenten des Gerichts. Er bat ihn, die Richter, die der Abteilung für Strafsache angehörten, vom Verfahren gegen ihn auszuschließen und das Verfahren an ein anderes Gericht zu verweisen. Die Richter könnten nicht unparteiisch sein, weil das Opfer die Tochter ihrer Kollegin sei. Der Anwalt bat den Gerichtspräsidenten, das Verfahren an ein anderes Gericht zu verweisen.

Der Gerichtspräsident holte Stellungnahmen von den Richtern ein, die an dem Prozess teilnehmen sollten. Diese versicherten schriftlich, es werde ihr Urteil nicht beeinflussen, dass das Opfer die Tochter einer Kollegin sei. Daraufhin lehnte der Präsident den Antrag ab, die Richter vom Verfahren auszuschließen und den Fall an ein anderes Gericht zu verweisen.

Die Richter führten das Verfahren durch; den Vorsitz führte der Richter, dessen Mitarbeiterin die Mutter des Opfers gewesen war. Die Mutter des Opfers trat als Nebenklägerin auf. Der Beschwerdeführer wurde zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und sechs Monaten verurteilt.  Der Mutter wurde Schadensersatz zugesprochen.

 

Rechtliche Bewertung:

Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde beim EGMR auf die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK. Er machte geltend, die Richter seien befangen gewesen.

Der Gerichtshof verwies auf seine langjährige Rechtsprechung, dass Unparteilichkeit eine objektive und eine subjektive Seite hat. Die subjektive Seite bedeute, dass der Richter frei von Vorurteilen oder Voreingenommenheit sei. Die subjektive Unparteilichkeit eines Richters werde vermutet, solange es keinen Beweis für das Gegenteil gebe.

In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle prüfe der Gerichtshof die objektive Seite, wobei die beiden Bereiche nicht immer scharf zu trennen seien. Bei dem objektiven Test gehe es darum, ob es, abgesehen von dem Verhalten des Richters. Tatsachen gebe, seine Unparteilichkeit in Zweifel ziehen könnten. Dabei gehe es zumeist um hierarchische Beziehungen zwischen dem Richter und anderen Personen oder andere Bindungen zwischen dem Richter und anderen Verfahrensbeteiligten.

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass das Verhalten der Richter im Verfahren keinen Anlass gegeben habe, an ihrer Unparteilichkeit zu zweifeln. Die subjektive Seite der Unparteilichkeit stehe daher nicht zur Debatte. Der Gerichtshof konzentrierte sich daher auf die Frage, ob es Beziehungen zwischen den Richtern und anderen Verfahrensbeteiligen gegeben habe, die Zweifel an deren Unparteilichkeit begründen könnten. Er verwies darauf, dass der strafrechtlichen Abteilung des Gerichts lediglich vier Richter angehörten. Insofern könnten persönliche Beziehungen zwischen den Richtern nicht ausgeschlossen werden.

Die Mutter des Opfers sei vier Jahre lang die juristische Mitarbeitern des Vorsitzenden Richters im Verfahren gewesen. Auch wenn nicht ersichtlich sei, dass ihre Beziehung über eine rein professionelle Zusammenarbeit hinausgegangen sei, sei dies doch geeignet, Bedenken hinsichtlich der Unparteilichkeit zu wecken. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass es um eine Familientragödie gegangen sei und dass es wegen des geltend gemachten Schadensersatzanspruches ein finanzielles Interesse der Nebenklägerin am Ausgang des Verfahrens gegeben habe.

Der Gerichtshof schloss daraus, dass es objektiv gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts gegeben habe. Er stellte eine Verletzung von Artikel 6 EMRK fest.

 

Mitrov gegen Mazedonien (Beschwerde Nr. 45959/09), Urteil vom 02.06.2006

Schatschaschwili gegen BR Deutschland

Holger Hembach · 24. Mai 2016 ·

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