Zur EMRK gibt es umfangreiche und differenzierte Rechtsprechung. Ob ein Verstoß gegen die Konvention vorliegt, ist häufig schwer festzustellen, und oft lässt sich kaum vorhersagen, wie der EGMR entscheiden wird. In einigen Fällen liegt die Konventionsverletzung aber offen zutage. Der Fall Dridi gegen Deutschland gehört meines Erachtens eher in die zweite Kategorie. In diesem Fall stellte der Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Strafverfahren eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war 2009 vom Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen verurteilt worden. In diesem Verfahren wurde er von einem Jurastudenten vertreten (die Strafprozessordnung sieht vor, dass in bestimmten Fällen mit Genehmigung des Gerichts auch Personen als Verteidiger auftreten dürfen, die keine Rechtsanwälte oder Hochschullehrer sind, § 138 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer legte Berufung ein. Er beantragte auch, ihn von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Berufungsverhandlung zu entbinden. Auch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, die sie auf das Strafmaß beschränkte.
Nach Einlegung der Berufungen zog der Beschwerdeführer nach Spanien. Er informierte das Gericht über seine dortige Adresse.
Das Landgericht Hamburg zog am 24.04.2009 die Genehmigung, dass der Jurastudent als Verteidiger auftreten durfte, zurück. Es wies auch den Antrag zurück, den Beschwerdeführer von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Diese Entscheidung schickte das Gericht den Beschwerdeführer an seine Adresse in Spanien.
Am gleichen Tage beraumte es die Berufungsverhandlung für den 13.05.2009 an. Das Landgericht entschied, den Beschwerdeführer zu dieser Verhandlung über eine öffentliche Zustellung zu laden. Dabei wird die Ladung bei Gericht ausgehängt und der Angeklagte gilt nach zwei Wochen als ordnungsgemäß geladen.
Einen Tag vor der Verhandlung erfuhr der Student, der den Beschwerdeführer verteidigt hatte, per Telefon, dass das Oberlandesgericht die Entscheidung aufgehoben hatte, seine Genehmigung zum Auftreten als Verteidiger zurückzuziehen. Er erfuhr auch, dass die Hauptverhandlung über die Berufung am folgenden Tage stattfinden sollte.
Der Verteidiger beantragte daher per Fax, die Hauptverhandlung zu vertagen, weil er am nächsten Tag nicht in der Stadt sein werde. Darüber hinaus beantragte er, dass ihm Dokumente aus der Akte – vor allem die Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft – übersandt werden sollten. Das Gericht versuchte, die Dokumente per Fax zu übersenden, was aber nicht gelang, weil das Faxgerät des Verteidigers keine Dokumente empfangen konnte.
Am 13.05.2009, also am Tag der Hauptverhandlung, wie das Landgericht den Antrag auf Verlegung der Hauptverhandlung zurück. Es führte aus, der Rechtsanwalt habe auf sein Recht auf Ladung innerhalb der vorgesehenen Frist verzichtet, weil ihm der Termin der Hauptverhandlung bekannt gewesen sei (wie sich aus seinem Fax vom Vortag ergebe).
Das Landgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers, weil der Beschwerdeführer ohne Entschuldigung nicht erschienen sei und auch nicht von einem Verteidiger vertreten worden sein.
Der Beschwerdeführer beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Landgericht wies den Antrag zurück. Es führte aus, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung vorgelegen hätten. Der Verteidiger hätte auf die Ladungsfrist verzichtet und sein Antrag auf Verlegung des Termins hätte sich nicht auf die Nichteinhaltung der Ladungsfrist sondern auf Terminprobleme geschützt, die er nicht näher beschrieben hätte.
Das Oberlandesgericht bestätigte diese Entscheidung.
Der Beschwerdeführer legte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein; das Bundesverfassungsgericht nahm diese ohne Begründung nicht zur Entscheidung an.
Rechtliche Beurteilung:
Verstoß gegen Artikel 6 Abs.1 und Abs. 3 c) EMRK
Der Beschwerdeführer stützte seine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Art. 6 Abs. 1 und Absatz 3 c) der EMRK. Art. 6 Abs. 1 regelt das Recht auf ein faires Verfahren; der dritte Absatz des Artikels hat bestimmte Aspekte dieses Rechts zum Gegenstand. Buchstabe c) dieses Absatzes garantiert das Recht, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer zum Erscheinen in der Berufungsverhandlung verpflichtet gewesen war und dass die Berufung verworfen worden war, weil er nicht erschienen war. Er führte aus, dass die Adresse des Beschwerdeführers in Spanien dem Landgericht bekannt gewesen war, dass eine vorherige Entscheidung erfolgreich an diese Adresse zugestellt worden war. Auch habe es keine erfolglosen Versuche gegeben, den Beschwerdeführer Dokumente zuzustellen. Der Beschwerdeführer sei auch sonst nicht darauf hingewiesen worden, dass ihm eine Ladung durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt worden sei – obwohl Art. 5 der EU Konvention über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen vom 29.05.2000 eine Übersendung mit der Post vorsehe. Außerdem habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Ladung keinen Verteidiger gehabt, weil zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung noch in Kraft gewesen sei, dass der Student ihm nicht vertreten dürfe. Aufgrund dieser Erwägungen sei der Gerichtshof davon überzeugt, dass die öffentliche Zustellung der Ladung nicht genug gewesen sei, um den Beschwerdeführer in die Lage zu versetzen, der Hauptverhandlung in seiner Sache beizuwohnen.
Insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 vor
Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 b) EMRK
Darüber hinaus stützte sich der Beschwerdeführer auf Art. 6 Abs. 3 b), der das Recht garantiert, ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu haben.
Der Gerichtshof führte aus, der Verteidiger habe erst einen Tag vor der Hauptverhandlung erfahren, dass diese am nächsten Tag stattfinden sollte. Er habe nicht über eine Kopie der Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft verfügt der Verteidiger habe eine Vertagung beantragt; dieser Antrag sei aber zurückgewiesen worden. Insofern könne man nicht davon ausgehen, dass der Verteidiger auf sein Recht auf fristgemäße Ladung verzichtet habe und dass er in der Lage gewesen sei, sich auf die Verteidigung vorzubereiten und an der Hauptverhandlung teilzunehmen.
Auch insofern liege ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor.