Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass es nicht grundsätzlich gegen die Pressefreiheit verstößt, wenn ein Gericht Medien verpflichtet, Bildaufnahmen des Angeklagten zu “verpixeln”. Eingelegt hatten die Beschwerde beim EGMR die Axel Springer SE und RTL. Dabei ging es um ein Strafverfahren gegen einen 28-jährigen Mann, dem vorgeworfen wurde, seine Eltern umgebracht und zerstückelt zu haben. Der Mann hatte gegenüber der Polizei ein Geständnis abgelegt. Mehrere Medien hatten darüber berichtet und dabei auch Fotos des Mannes veröffentlicht; diese Bilder waren aber größtenteils einige Jahre alt.
Der Vorsitzende Richter in dem Verfahren ordnete zunächst mündlich an, Bilder von dem Angeklagten müssten “verpixelt” werden. RTL beantragte beim Präsidenten des Landgerichts, diese Anordnung zu ändern. Daraufhin erließ der Vorsitzende Richter eine schriftliche Anordnung. Nach dieser Anordnung sollte es nur solchen Medienvertretern gestattet sein, Fotos zu machen, die zuvor schriftlich versichert hatten, dass sie das Gesicht des Angeklagten unkenntlich machen würden. Der Vorsitzende Richter führte aus, er müsse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit dem Persönlichkeitsrecht des Angeklagten abwägen. Das Verbrechen, um das es gehe, sei ungewöhnlich. Dennoch habe die Tat kein bundesweites Aufsehen erregt. Da der Angeklagte niemals im Licht der Öffentlichkeit gestanden habe und die Öffentlichkeit auch nicht selbst gesucht habe, sei es auch im Interesse der Unschuldsvermutung geboten, sein Gesicht auf Bildern unkenntlich zu machen.
Die Axel Springer SE und RTL erhoben zunächst erfolglos eine Gegenvorstellung und legten dann eine Verfassungsbeschwerde ein, die ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
Der EGMR prüfte einen Verstoß gegen den Grundsatz der Pressefreiheit, der in Art. 10 EMRK verankert ist. Es war unstreitig, dass die Anordnung des Vorsitzenden der Pressefreiheit beschränkte. Die Frage war lediglich, ob diese Beschränkung gerechtfertigt war. Eine Beschränkung der in Art. 10 garantierten Rechte ist möglich, wenn
- es eine hinreichende gesetzliche Grundlage gibt
- die Beschränkung einem legitimen Ziel dient
- sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist
Die Anordnung des Vorsitzenden Richters war auf § 176 GVG geschützt gewesen. Nach dieser Vorschrift obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden. Die Beschwerdeführer bezweifelten, dass dies eine hinreichend präzise gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Pressefreiheit sei. Das überzeugte den Gerichtshof nicht. Er räumte ein, dass die Vorschrift nicht sonderlich genau formuliert sei; sie könne dies aber auch nicht sein, weil nicht alle Situationen, mit denen ein Vorsitzende Richter bezüglich der Ordnung in der Hauptverhandlung konfrontiert sein können vorhersehbar seien. Darüber hinaus sei § 176 GVG durch die Rechtsprechung, vor allem durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hinreichend konkretisiert.
Das legitime Ziel der Beschränkung der Pressefreiheit sah der EGMR im Schutz der Persönlichkeitsrechte des Angeklagten.
Der Schwerpunkt der Prüfung durch den Gerichtshof lag auf der Frage, ob die Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei. Hier sei abzuwägen zwischen dem Recht des Betroffenen auf den Schutz seiner schwarz wäre und dem Interesse der Öffentlichkeit, über den Fall informiert zu werden. Im Rahmen dieser Abwägung seien die folgenden Kriterien zu berücksichtigen:
- ob die Berichterstattung zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beitrage
- die öffentliche Bekanntheit des Betroffenen
- der mögliche Einfluss der Berichterstattung auf das Verfahren
- die Umständen unter denen die Fotos des Betroffenen gemacht worden seien
- der Inhalt, die Form und die Konsequenzen der Berichterstattung
- der Umfang der gerichtlichen Anordnung und die in ihr angedrohten Sanktionen
Aufgrund dieser Kriterien gelangte der Gerichtshof zu der Auffassung, dass der Vorsitzende Richter in zutreffender Weise zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Angeklagten und dem Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung abgewogen habe. Die Anordnung, das Gesicht des Angeklagten auf Fotos unkenntlich zu machen verstoße daher nicht gegen Art. 10.
Das Urteil besagt allerdings nicht, dass eine solche Anordnung immer zulässig wäre. Es ist stets einer Abwägung erforderlich, die anhand der Kriterien erfolgen muss, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat.
EGMR, Axel Springer SE und RTL GmbH gegen Deutschland, Urteil vom 21.07.2017, Beschwerde Nr. 51405/12