Verschiedene Medien haben bereits darüber berichtet: Im Fall von Deniz Yücel hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verfahrensbeteiligten zu einer Stellungnahme aufgefordert.Das Schreiben des Gerichtshofs ist jetzt veröffentlicht (hier)
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Auffassung ist, dass eine Beschwerde näherer Prüfung bedarf, „kommuniziert“ er diese.
Das bedeutet, dass der Beschwerdeführer und der Staat, gegen den sich die die Beschwerde richtet, ein sogenanntes „statement of the facts“ erhalten (oder ein Exposé des faits, wenn das Verfahren auf Französisch geführt wird, wie im Falle Yücels). In diesem fasst der Gerichtshof den Sachverhalt zusammen. Darüber hinaus weist er auf die wesentlichen Rechtsfragen hin und gibt den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. Diese Rechtsfragen sind in Yücels Fall weitgehend die gleichen wie im Fall der Cumhuriyet-Journalisten, über den ich bereits früher berichtet hatte.
Sachverhalt:
Die Umstände, die zur Verhaftung von Deniz Yücel geführt haben, fasst der Gerichtshof wie folgt zusammen:
2016 verschaffte die Hackergruppe „Red Hack“ sich Zugang zu E-Mails des türkischen Energieministers. Im Dezember 2016 veröffentlichte Wikileaks mehr als 50.000 dieser E-Mails.
Im Februar 2017 erfuhr Deniz Yücel, dass gegen ihn ermittelt wurde. Er begab sich deshalb nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft zu einer Polizeistation. Dort eröffnete man ihm, dass er der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des illegalen Besitzes persönlicher Daten und des Eindringens in Computersysteme verdächtigt würde. Yücel erklärte, dass er gegenüber der Staatsanwaltschaft Fragen beantworten würde. Dennoch wurde er nicht zur Staatsanwaltschaft gebracht, sondern in Haft genommen. Ihm wurde Akteneinsicht verweigert.
Yücel legte sowohl gegen seine Haft als auch gegen die Verweigerung der Akteneinsicht Rechtsmittel ein. Der Friedensrichter wies beide zurück.
Im Februar befragte ihn ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Istanbul. Die Fragen betrafen vor allem mehrere Artikel, die Yücel in der Zeitung die Welt veröffentlicht hatte. Yücel erklärte, er sei Journalist und hätte keinerlei Verbindung zu terroristischen Organisationen.
Noch am gleichen Tag wurde Yücel von einem Friedensrichter in Istanbul befragt. Die Befragung erfolgte wegen des Verdachts der Propaganda für eine terroristische Organisation und der Aufstachelung des Volks zum Hass und zur Feindseligkeit. Erneut befragte der Richter Yücel vor allem zu Artikeln, die dieser veröffentlicht hatte
Der Friedensrichter ordnete die Untersuchungshaft an. Zur Begründung verwies er auf die Existenz eines starken Verdachts gegen Deniz Yücel; die Natur der Verbrechen, um die es gehe; die Strafe, die für diese Verbrechen vorgesehen sei und die Gefahr, dass andere Mittel nicht hinreichend seien, um die Anwesenheit von Denis Yücel für das Verfahren zu gewährleisten.
Anfang März 2017 legte Deniz Yücel Beschwerde gegen die Anordnung der Untersuchungshaft ein. Der Friedensrichter dieses Rechtsmittel zurück und ordnete die Fortdauer der Haft an.
Am 27. März 3017 legte Yücel Beschwerde beim Verfassungsgericht ein. Er berief sich dabei auf eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit, seines Rechtes auf Äußerungsfreiheit und auf die Pressefreiheit. Er machte geltend, er sei aus Gründen festgenommen worden, die in der türkischen Verfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vorgesehen seien. Er beschwerte sich über eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 (Folterverbot), Artikel 5 (Recht auf Freiheit), Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 (Recht auf Privatleben) und Art. 13 (Recht auf ein effektives Rechtsmittel) der EMRK.
Er beantragte auch, dass das Verfassungsgericht mit einer einstweiligen Anordnung seine Freilassung anordnen möge. Das Verfassungsgericht wies den Antrag auf einstweilige Anordnung zurück, weil die Untersuchungshaft Yücels keine Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit darstelle.
Die Entscheidung betrifft nur den Antrag auf eine einstweilige Anordnung. In der Hauptsache hat das Verfassungsgericht noch keine Entscheidung getroffen.
Rechtsfragen:
Die erste Frage, die der Gerichtshof den Parteien stellt, bezieht sich auf die Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel.
Grundsätzlich muss ein Beschwerdeführer alle effektiven Rechtsmittel in Anspruch nehmen, die der Staat zur Verfügung stellt, bevor er eine Beschwerde beim EGMR einreichen kann. Deniz Yücel hat zwar eine Verfassungsbeschwerde eingereicht; er hat aber nicht die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtes in der Hauptsache abgewartet. Wahrscheinlich wird sich die Diskussion in diesem Punkt darum drehen, ob die Verfassungsbeschwerde ein effektives Rechtsmittel ist, dessen Ausgang Deniz Yücel hätte abwarten müssen.
Die zweite Frage bezieht sich auf den effektiven Rechtsschutz gegen Untersuchungshaft. Art. 5 Abs. 4 EMRK schreibt vor, dass jede verhaftete Person das Recht darauf hat, dass ein Gericht innerhalb kurzer Zeit über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet. Hier wirft der Gerichtshof die Frage auf, ob Deniz Yücel die Möglichkeit hatte, sich effektiv gegen die Haft zu verteidigen, obwohl ihm keine Akteneinsicht gewährt worden ist.
Darüber hinaus fragt der EGMR die Parteien, ob das Verfahren vor dem Verfassungsgericht, mit dem sich Mittel gegen die Untersuchungshaft Werte, den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK – vor allem, ob dieses Verfahren die erforderliche Entscheidung innerhalb kurzer Zeit gewährleisten konnte.
Die dritte Frage des Gerichtshofs bezieht sich auf die Gründe für die unter Suchung Haft. Art. 5 Abs. 1 verlangt, dass es für die Untersuchungshaft eine Grundlage im innerstaatlichen Recht geben muss. Hier fragt der Gerichtshof, ob die in der Akte enthaltenen Beweise gegen Yücel hinreichend waren, um einen objektiven Beobachter von einem Tatverdacht gegen ihn zu überzeugen.
Mit seiner vierten Frage gibt der EGMR den Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu, ob die zuständigen türkischen Stellen hinreichende Gründe angegeben haben, um die Untersuchungshaft gegen Deniz Yücel zu rechtfertigen.
Die fünfte Frage des Gerichtshofs hat das Recht auf Schadensersatz zum Gegenstand: Art. 5 Abs. 5 EMRK sieht vor, dass jede Person, deren Recht auf Freiheit nach Art. 5 verletzt worden ist, einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Der EGMR möchte von den Parteien wissen, ob es nach türkischem Recht eine Grundlage für einen solchen Schadensersatzanspruch gibt.
In seiner sechsten Frage bitte der Gerichtshof die Parteien, sich mit der Äußerungsfreiheit auseinanderzusetzen. Art. 10 EMRK garantiert jedem das Recht, seine Meinung zu äußern und Tatsachen zu verbreiten. In dieses Recht kann nur unter bestimmten Voraussetzungen eingegriffen werden, die in dem zweiten Absatz von Art. 10 EMRK geregelt sind. Der Gerichtshof möchte wissen, ob in Denis Yücels Äußerungsfreiheit eingegriffen worden ist und, falls ja, ob die Voraussetzungen erfüllt waren, unter denen dies zulässig ist.
Schließlich fragt der Gerichtshof mit seiner siebten und letzten Frage, ob die Inhaftierung von Deniz Yücel gegen Art. 18 EMRK verstieß. Nach dieser Vorschrift dürfen Rechte, die die EMRK garantiert, nur zu den Zwecken beschränkt werden, EMRK vorsieht. Beispielsweise darf das Recht auf Einheit Falle beschränkt werden, um zu gewährleisten, dass der Beschuldigte nicht flieh. Dagegen verstieße es gegen Art. 18, die Untersuchungshaft anzuordnen, um einen Journalisten zum Schweigen zu bringen oder um ihn als Druckmittel gegenüber Deutschland zu missbrauchen.