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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Art. 10 EMRK

Justizkritik durch einen Rechtsanwalt und Art. 10 EMRK – Ottan gegen Frankreich

Holger Hembach · 26. April 2018 ·

Strafprozess stoßen oft auf öffentliches Interesse – und in einigen Fällen werden sie auch über die Medien geführt. Das kann es mit sich bringen, dass Rechtsanwälte Gerichte kritisieren. Die Frage, welchen Grenzen sie dabei unterliegen, hat vor kurzem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt.

Der Beschwerdeführer war ein französischer Rechtsanwalt. Er hatte in einem Strafprozess die Familie eines jungen Mannes vertreten, der von einem Polizisten erschossen worden war. Gemeinsam mit dem Schützen waren zwei weitere Polizeibeamte angeklagt, denen vorgeworfen wurde, im Ermittlungsverfahren gelogen zu haben, um ihren Kollegen zu schützen.

Das Gericht trennte das Verfahren gegen diese beiden Beamten ab und verwies es an ein anderes Gericht.

Das Hauptverhandlung gegen den Polizisten, der geschossen hatte, dauerte fünf Stunden. An ihrem Ende beantragte der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren (aus den Materialien, die dem EGMR vorlagen, ging nicht hervor, ob es sich dabei um eine Bewährungsstrafe handeln sollte).

Das Gericht sprach den Polizisten frei.

Nach der Verhandlung stellten Journalisten den Rechtsanwälten, die am Verfahren teilgenommen hatten, unmittelbar vor dem Verhandlungssaal Fragen. Der Beschwerdeführer sagte zunächst, die Art wie das Urteil von den Opfern und der sozialen Gruppe, der sich angehörten, aufgefasst werde, sei dramatisch für den sozialen Frieden.

Ein Journalist fragte, ob es eine Erlaubnis zum Töten gebe. Der Beschwerdeführer antwortete: „Oh, ich weiß nicht, ob man das sagen kann. Das ist nicht notwendigerweise eine Erlaubnis zum Töten. Das ist eine Weigerung den Realitäten in diesem Land ins Gesicht zu sehen und der Existenz einer Gesellschaft mit zwei verschiedenen Geschwindigkeiten, nicht nur einer Justiz mit zwei Geschwindigkeiten, sondern wirklich einer Gesellschaft mit zwei Geschwindigkeiten, die sich auf allen Ebenen wiederfindet. Wir leben in Türmen, wir haben die Zentren der Städte getrennt, wir führen Strafverfahren durch, die für die einen mit Verurteilungen enden, für die anderen mit Freisprüchen (…).“

Auf die Frage eines Journalisten, ob er dieses Urteil erwartet oder befürchtet habe, antwortete er:

„Ich habe immer gewusst, dass es mögliche wäre. Eine weiße Jury, ausschließlich weiß, in der nicht alle sozialen Gruppen repräsentiert sind, mit, das kann man wohl sagen, einer extrem schwachen Anklage, extrem zielorientiert geführten Verhandlungen, das war der Weg zum Freispruch ein offener Weg, das ist keine Überraschung“.

Wegen dieser letzten Bemerkungen beantragte die Staatsanwaltschaft ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer. Der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer vertrat die Auffassung, die Äußerung sei noch von der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gedeckt.

Die Staatsanwaltschaft legte Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein. Das Appellationsgericht vertrat die Auffassung, die Äußerung des Rechtsanwaltes habe es an Zurückhaltung und Mäßigung fehlen lassen. Dem Rechtsanwalt komme keine Privilegierung für Äußerungen in Gerichtsverfahren zugute, denn die Äußerung sei außerhalb des Verfahrens gefallen. Die Mitglieder der Jury seien Teile des Gerichts. Der Rechtsanwalt habe seine Kritik an der Hautfarbe der Jury festgemacht. Dies habe eine rassistische Komponente. Es sei noch ein Rechtsmittel gegen den Freispruch möglich gewesen; insofern sei die Kritik auch nicht die letzte Möglichkeit gewesen. Das Gericht sprach eine Ermahnung aus, die mildeste nach dem Gesetz mögliche Disziplinarmaßnahme.

Der Beschwerdeführer legte eine Beschwerde beim EGMR ein.  Er machte geltend, die Disziplinarmaßnahme verstoße gegen seine Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.

Der EGMR stellte fest, dass die Ermahnung des Rechtsanwaltes einen Eingriff in dessen Rechte nach Art. 10 EMRK darstelle. Zu prüfen sei, ob dieser Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 gerechtfertigt sei.

Es gebe mit den Vorschriften über Disziplinarmaßnahmen gegen Rechtsanwälte eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff.

Der Eingriff in die Äußerungsfreiheit diene auch einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Ehre und Reputation anderer. Der Beschwerdeführer hatte das bestritten. Er wies darauf hin, dass der die Angehörigen des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe habe beleidigen oder kritisieren wollen. Daher könne seine Disziplinierung auch nicht ihrem Schutz dienen. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Er erkannte an, dass die Disziplinarmaßnahme, unabhängig von den Absichten des Beschwerdeführers, zumindest auf den Schutz der Reputation anderer abgezielthabe.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass Gerichtsverfahren nicht über die Medien geführt werden sollten. Er war aber der Auffassung, dass der Rechtsanwalt durch seine kritische Bemerkung die Staatsanwaltschaft habe motivieren wollen, Rechtsmittel gegen den Freispruch einzulegen. Daher habe die Äußerung auch der Vertretung seiner Mandanten gedient.

Der Gerichtshof prüfte, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Er führte aus, dass die Bemerkung des Beschwerdeführers einen Beitrag zu einer wichtigen gesellschaftlichen Debatte leiste, nämlich zu der Frage, wie die gesellschaftliche Zusammensetzung von Jurys und der Richterschaft insgesamt den Ausgang eines Verfahrens beeinflusse. Dabei verwies der Gerichtshof auf die Bemühungen Ländern wie den Niederlanden, Großbritannien oder den USA, dafür zu sorgen, dass die Zusammensetzung der Richterschaft auch die Zusammensetzung der Bevölkerung wiederspiegelt.

Der EGMR war der Auffassung, der Beschwerdeführer habe die Mitglieder des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe herabsetzen wollen. Vielmehr habe seine Bemerkung auf eine größere gesellschaftliche Diskussion über die Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in der Justiz abgezielt.  Sie füge sich ein in eine gesellschaftliche Debatte über die Justiz in einer diversen Gesellschaft.

Der Rechtsanwalt habe auch die Autorität der Justiz insgesamt nicht in Zweifel ziehen wollen. Auch wenn die verhängte Sanktion die mildeste aller möglichen Disziplinarmaßnahmen gewesen sei, sei selbst dieser Eingriff nicht gerechtfertigt gewesen.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

EGMR zur Berichterstattung über Verdacht einer Mafiamitgliedschaft – Verlagsgruppe Droemer Knaur gegen Deutschland

Holger Hembach · 27. Oktober 2017 ·

Die Journalistin und Romanautorin Petra Reski hat sich als Mafia-Expertin einen Namen gemacht. In ihren Büchern beschäftigt sie sich auch mit den Geschäften und dem Einfluss der Mafia in Deutschland. Als einen mächtigen Angehörigen der Verbrecherorganisation hat sie dabei einen Erfurter Gastronomen identifiziert und in Büchern und Zeitungsartikeln benannt. Der wehrt sich gegen Reskis Einschätzung vor Gericht.

Vor kurzem führte das zu einem Streit zwischen der Journalistin und Jakob Augstein, dem Verleger des “Freitag“. Reski berichtete über einen Prozess, in dem der Restaurantbesitzer gegen die Behauptung in einem MDR-Bericht vorging, er sei ein Mitglied der Mafia. Dabei nannte sie seinen Namen; der „Freitag“ veröffentlichte den Artikel. Postwendend forderte der namentlich benannte Gastronom den „Freitag“ auf, die Nennung seines Namens zu unterlassen und machte Schadensersatzansprüche gegen die Autorin geltend. 

Der “Freitag” löschte den Artikel, ohne Rücksprache mit Petra Reski und weigerte sich, die Autorin im Verfahren über die Schadensersatzansprüche zu unterstützen. Kritiker machten geltend, es entspreche den Gepflogenheiten in solchen Fällen, dass Verlage ihren Autoren zur Seite stehen. Jakob Augstein, der Verleger des Freitag hielt dagegen, ein Verlag sei keine Rechtsschutzversicherung für schlechte Recherche. Petra Reski hat daraufhin das Geld für ihre Rechtsverteidigung per Crowdfunding gesammelt und Jakob Augstein wegen seiner Äußerungen verklagt, die sie als rufschädigend empfindet

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich nun mit einem Fall beschäftigt, der damit im Zusammenhang steht.

Sachverhalt

Petra Reski hatte 2008 ein Buch mit dem Titel „Mafia“ veröffentlicht. In diesem beschäftigte sie sich mit der Struktur der Mafia und ihren Verbindungen zu Deutschland. Sie nannte dabei auch namentlich den Besitzer eines italienischen Restaurants in Erfurt als ein mutmaßliches Mitglied der ‚Ndrangheta . Dieser sei bereits im Jahre 2000 in einem Bericht des Bundeskriminalamtes erwähnt worden. Er habe nach dem Bericht des BKA seine Laufbahn als Pizzabäcker in dem Restaurant „Da Bruno“ in Duisburg begonnen (in einem Restaurant dieses Namens fanden 2007 die Mafia-Morde von Duisburg statt; der Gatronom war aber offenbar in einem anderen Restaurant des gleichen Namens).

Er verfüge als Sponsor eines Golfklubs über gute Verbindungen. Als die Polizei sein Restaurant durchsucht habe, weil er eines Mordes verdächtig gewesen sei, hätten dort gerade der Ministerpräsident von Thüringen und der Innenstaatssekretär gegessen.

Die Autorin stützte sich für ihre Berichte auf zwei Berichte des BKA aus den Jahren 2000 und 2008. In beiden Berichten wurde der Gastronom als Mitglied der ‚Ndrangheta erwähnt. Die Berichte des BKA wurden nicht veröffentlicht.

Petra Reskis Buch erschien bei der Verlagsgruppe Droemer und Knaur.

Der Mann, der als Mafiamitglied genannt worden war, erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen die Veröffentlichung seines Namens in dem Buch.

Im folgenden Hauptsachverfahren begehrte er zusätzlich Schadensersatz wegen der Verletzung seines Persönlichkeitsrechts von dem Verlag, der das Buch veröffentlich hatte. Das Gericht sprach ihm Schadensersatz in Höhe von 10.000 € zu.

Es befand, der Verlag habe bei der Veröffentlichung seine journalistische Sorgfaltspflicht nicht beachtet. Er hätte dem Restaurantbesitzer die Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Auch seien die Verdachtsmomente in den Berichten des BKA sehr vage gewesen. Auch hätte die Autorin (bzw. der Verlag) berücksichtigen müssen, dass es offenbar nicht genug Beweise für eine Anklage gegeben habe. Dies hätte in dem Buch auch erwähnt werden müssen. Der Verlag könne sich auch deshalb nicht auf die Berichte berufen, weil diese nie veröffentlich worden sein.

Der Verlag bot im Verfahren Beweise für die Mafiamitgliedschaft des Klägers an. Das Gericht hielt diese Beweisangebote aber für unerheblich.

Nach einer erfolglosen Verfassungsbeschwerde legte die Verlagsgruppe Droemer Knaur eine Beschwerde beim EGMR ein.

 

Rechtliche Beurteilung

Der EGMR hatte, wie so oft, abzuwägen zwischen der Presse-  und Meinungsfreiheit und dem Recht auf Privatleben (das auch die Reputation erfasst) des Betroffenen. Er orientierte sich dabei an den Kriterien, die er in seiner Rechtsprechung entwickelt hat.

  • Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse

Der Gerichtshof erkannte an, dass Beiträge über Straftaten allgemein und die Rolle der Mafia in Deutschland von öffentlichem Interesse sind.

 

  • Thema der Berichterstattung und Bekanntheit der betroffenen Person

Der Gerichtshof geht davon aus, dass Personen die im Licht der Öffentlichkeit stehen, einen geringeren Anspruch auf Schutz haben. Er wies darauf hin, dass die deutschen Gerichte die Frage der Bekanntheit des Betroffenen nicht erörtert hatten. Der EGMR ging aber davon aus, dass der Betroffene Gastronom als Privatperson besonderen Schutz seines Rechts auf Privatleben genoss.

 

  • Art der Informationsbeschaffung und Wahrhaftigkeit der Information

der Gerichtshof unterstrich, dass auch die Berichterstattung über wichtige Themen von öffentlichem Interesse nicht völlig frei sei. Nach Art. 10 Abs. 2 bringe die Presse und Meinungsfreiheit auch Pflichten und Verantwortung mit sich. Diese Pflichten und Verantwortung hätten dann eine besondere Bedeutung, wenn eine namentlich genannte Person von der Berichterstattung betroffen sei. Wichtig sei in diesem Zusammenhang die Schwere der Diffamierung der Person und die Verlässlichkeit der Quellen, auf die sich die Berichterstattung stütze.

Einerseits habe die Autorin es in dem Buch nicht als Tatsache dargestellt, dass der Gastronom der Mafia angehöre. Andererseits ergebe es sich aus der Darstellung, dass seine Mitgliedschaft in der kriminellen Organisation sehr wahrscheinlich sei. Dies habe der Verlag aber in den Prozessen in Deutschland nicht beweisen können.

Petra Reski habe sich auf Berichte des Bundeskriminalamtes stützen können. Diese seien aber interne Berichte gewesen, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Journalisten Informationen aus offiziellen Berichten ohne weitere Prüfung übernehmen dürfen. Der Gerichtshof führte nun aus, dass dies nicht gelte, wenn es sich lediglich um interne Dokumente handele. Die Autorin habe deshalb ihre journalistische Sorgfaltspflicht nicht erfüllt, als sie sich auf den Inhalt dieser Berichte verlassen habe.

 

  • Früheres Verhalten der Person

Der Gerichtshof stellte fest, dass es vor der Veröffentlichung des größten keine Veröffentlichungen gegeben hatte, denen zur Folge der Betroffene einen Mafioso sei.

 

  • Inhalt, Form und Konsequenzen der Veröffentlichung

Der EGMR ging davon aus, dass die Darstellung des Gastronomen als Mitglied einer gefährlichen Verbrecherorganisation dessen Ruf in erheblichem Maße beschädigte.

 

  • Höhe der Sanktion

der Gerichtshof kam zu der Auffassung, dass die Auferlegung eines Schadensersatzes in Höhe von 10.000 € den Verlag nicht unverhältnismäßig belastete bzw. keinen unverhältnismäßigen Eingriff in dessen Recht auf Meinungsfreiheit darstellte.

 

Aufgrund dieser Erwägungen stellte der EGMR keine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Eine Richterin des Gerichtshofs gab eine abweichende Meinung ab; sie war der Auffassung, dass die nationalen Gerichte Fehler bei der Abwägung zwischen der Pressefreiheit und dem Recht auf Privatleben gemacht hatten. Nach ihrer Auffassung lag einer Verletzung von Art. 10 EMRK vor.

Die abweichende Meinung findet sich im Wortlaut und in einer deutschen Übersetzung auf der Webseite von Petra Reski. Dort ist auch eine Stellungnahme der Autorin.Und ein Interview mit ihr zu dem Urteil ist hier in der Taz erschienen

 

Verlagsgruppe Droemer Knaur g. Deutschland (Beschwerde Nr. 35030/13), Urteil vom 19.10.2017

 

 

EGMR gibt Verfahrensbeteiligten im Fall Deniz Yücel Gelegenheit zur Stellungnahme

Holger Hembach · 25. Juli 2017 ·

Verschiedene Medien haben bereits darüber berichtet: Im Fall von Deniz Yücel hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verfahrensbeteiligten zu einer Stellungnahme aufgefordert.Das Schreiben des Gerichtshofs ist jetzt veröffentlicht (hier)

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Auffassung ist, dass eine Beschwerde näherer Prüfung bedarf, „kommuniziert“ er diese.

Das bedeutet, dass der Beschwerdeführer und der Staat, gegen den sich die die Beschwerde richtet, ein sogenanntes „statement of the facts“ erhalten (oder ein Exposé des faits, wenn das Verfahren auf Französisch geführt wird, wie im Falle Yücels). In diesem fasst der Gerichtshof den Sachverhalt zusammen. Darüber hinaus weist er auf die wesentlichen Rechtsfragen hin und gibt den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen.  Diese Rechtsfragen sind in Yücels Fall weitgehend die gleichen wie im Fall der Cumhuriyet-Journalisten, über den ich bereits früher berichtet hatte.

 

Sachverhalt:

Die Umstände, die zur Verhaftung von Deniz Yücel geführt haben, fasst der Gerichtshof wie folgt zusammen:

2016 verschaffte die Hackergruppe „Red Hack“ sich Zugang zu E-Mails des türkischen Energieministers. Im Dezember 2016 veröffentlichte Wikileaks mehr als 50.000 dieser E-Mails.

Im Februar 2017 erfuhr Deniz Yücel, dass gegen ihn ermittelt wurde. Er begab sich deshalb nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft zu einer Polizeistation. Dort eröffnete man ihm, dass er der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des illegalen Besitzes persönlicher Daten und des Eindringens in Computersysteme verdächtigt würde. Yücel erklärte, dass er gegenüber der Staatsanwaltschaft Fragen beantworten würde. Dennoch wurde er nicht zur Staatsanwaltschaft gebracht, sondern in Haft genommen. Ihm wurde Akteneinsicht verweigert.

Yücel legte sowohl gegen seine Haft als auch gegen die Verweigerung der Akteneinsicht Rechtsmittel ein. Der Friedensrichter wies beide zurück.

Im Februar befragte ihn ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Istanbul. Die Fragen betrafen vor allem mehrere Artikel, die Yücel in der Zeitung die Welt veröffentlicht hatte. Yücel erklärte, er sei Journalist und hätte keinerlei Verbindung zu terroristischen Organisationen.

Noch am gleichen Tag wurde Yücel von einem Friedensrichter in Istanbul befragt. Die Befragung erfolgte wegen des Verdachts der Propaganda für eine terroristische Organisation und der Aufstachelung des Volks zum Hass und zur Feindseligkeit. Erneut befragte der Richter Yücel vor allem zu Artikeln, die dieser veröffentlicht hatte

Der Friedensrichter ordnete die Untersuchungshaft an. Zur Begründung verwies er auf die Existenz eines starken Verdachts gegen Deniz Yücel; die Natur der Verbrechen, um die es gehe; die Strafe, die für diese Verbrechen vorgesehen sei und die Gefahr, dass andere Mittel nicht hinreichend seien, um die Anwesenheit von Denis Yücel für das Verfahren zu gewährleisten.

Anfang März 2017 legte Deniz Yücel Beschwerde gegen die Anordnung der Untersuchungshaft ein. Der Friedensrichter dieses Rechtsmittel zurück und ordnete die Fortdauer der Haft an.

Am 27. März 3017 legte Yücel Beschwerde beim Verfassungsgericht ein. Er berief sich dabei auf eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit, seines Rechtes auf Äußerungsfreiheit und auf die Pressefreiheit. Er machte geltend, er sei aus Gründen festgenommen worden, die in der türkischen Verfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vorgesehen seien. Er beschwerte sich über eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 (Folterverbot), Artikel 5 (Recht auf Freiheit),  Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 (Recht auf Privatleben) und Art. 13 (Recht auf ein effektives Rechtsmittel) der EMRK.

Er beantragte auch, dass das Verfassungsgericht mit einer einstweiligen Anordnung seine Freilassung anordnen möge. Das Verfassungsgericht wies den Antrag auf einstweilige Anordnung zurück, weil die Untersuchungshaft Yücels keine Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit darstelle.

Die Entscheidung betrifft nur den Antrag auf eine einstweilige Anordnung. In der Hauptsache hat das Verfassungsgericht noch keine Entscheidung getroffen.

 

Rechtsfragen:

Die erste Frage, die der Gerichtshof den Parteien stellt, bezieht sich auf die Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel.

Grundsätzlich muss ein Beschwerdeführer alle effektiven Rechtsmittel in Anspruch nehmen, die der Staat zur Verfügung stellt, bevor er eine Beschwerde beim EGMR einreichen kann. Deniz Yücel hat zwar eine Verfassungsbeschwerde eingereicht; er hat aber nicht die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtes in der Hauptsache abgewartet. Wahrscheinlich wird sich die Diskussion in diesem Punkt darum drehen, ob die Verfassungsbeschwerde ein effektives Rechtsmittel ist, dessen Ausgang Deniz Yücel hätte abwarten müssen.

 

Die zweite Frage bezieht sich auf den effektiven Rechtsschutz gegen Untersuchungshaft. Art. 5 Abs. 4 EMRK schreibt vor, dass jede verhaftete Person das Recht darauf hat, dass ein Gericht innerhalb kurzer Zeit über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet. Hier wirft der Gerichtshof die Frage auf, ob Deniz Yücel die Möglichkeit hatte, sich effektiv gegen die Haft zu verteidigen, obwohl ihm keine Akteneinsicht gewährt worden ist.

Darüber hinaus fragt der EGMR die Parteien, ob das Verfahren vor dem Verfassungsgericht, mit dem sich Mittel gegen die Untersuchungshaft Werte, den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK – vor allem, ob dieses Verfahren die erforderliche Entscheidung innerhalb kurzer Zeit gewährleisten konnte.

 

Die dritte Frage des Gerichtshofs bezieht sich auf die Gründe für die unter Suchung Haft. Art. 5 Abs. 1 verlangt, dass es für die Untersuchungshaft eine Grundlage im innerstaatlichen Recht geben muss. Hier fragt der Gerichtshof, ob die in der Akte enthaltenen Beweise gegen Yücel hinreichend waren, um einen objektiven Beobachter von einem Tatverdacht gegen ihn zu überzeugen.

 

Mit seiner vierten Frage gibt der EGMR den Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu, ob die zuständigen türkischen Stellen hinreichende Gründe angegeben haben, um die Untersuchungshaft gegen Deniz Yücel zu rechtfertigen.

 

Die fünfte Frage des Gerichtshofs hat das Recht auf Schadensersatz zum Gegenstand: Art. 5 Abs. 5 EMRK sieht vor, dass jede Person, deren Recht auf Freiheit nach Art. 5 verletzt worden ist, einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Der EGMR möchte von den Parteien wissen, ob es nach türkischem Recht eine Grundlage für einen solchen Schadensersatzanspruch gibt.

 

In seiner sechsten Frage bitte der Gerichtshof die Parteien, sich mit der Äußerungsfreiheit auseinanderzusetzen. Art. 10 EMRK garantiert jedem das Recht, seine Meinung zu äußern und Tatsachen zu verbreiten. In dieses Recht kann nur unter bestimmten Voraussetzungen eingegriffen werden, die in dem zweiten Absatz von Art. 10 EMRK geregelt sind. Der Gerichtshof möchte wissen, ob in Denis Yücels Äußerungsfreiheit eingegriffen worden ist und, falls ja, ob die Voraussetzungen erfüllt waren, unter denen dies zulässig ist.

 

Schließlich fragt der Gerichtshof mit seiner siebten und letzten Frage, ob die Inhaftierung von Deniz Yücel gegen Art. 18 EMRK verstieß. Nach dieser Vorschrift dürfen Rechte, die die EMRK garantiert, nur zu den Zwecken beschränkt werden, EMRK vorsieht. Beispielsweise darf das Recht auf Einheit Falle beschränkt werden, um zu gewährleisten, dass der Beschuldigte nicht flieh. Dagegen verstieße es gegen Art. 18, die Untersuchungshaft anzuordnen, um einen Journalisten zum Schweigen zu bringen oder um ihn als Druckmittel gegenüber Deutschland zu missbrauchen.

 

Rechtsanwalt Holger Hembach