„Sex sells“ lautet ja die Marketingweisheit. Leider hat man als Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf die Europäische Menschenrechtskonvention nicht oft Gelegenheit, von diesem Grundsatz Gebrauch zu machen, um die Reichweite des eigenen Blogs zu steigern. Zu selten sind die Sexualbezüge in der Rechtsprechung des Gerichtshofs.
Eine Ausnahme bildet jetzt der Fall Carvalho Pinto de Sousa Morais gegen Portugal, der sich mit Altersdiskriminierung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts befasst. Dreh- und Angelpunkt war dabei die Aussage des höchsten Gerichts in Portugal, dass Sexualität für eine Frau über 50 weniger wichtig sei. Dabei ging es um folgendes:
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin hatte über Jahre hinweg unter bestimmten Beeinträchtigungen der Vagina gelitten. Sie unterzog sich schließlich einer Operation. Bei dieser Operation wurde aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers ein anderer Bereich der Vagina verletzt. Für die betroffene Frau hatte das gravierende Folgen: Sie war teilweise inkontinent, hatte Beschwerden beim Gehen und Sitzen und litt unter einer starken Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens. Sie klagte auf Schadensersatz.
Das zuständige Gericht sprach ihre zunächst Schmerzensgeld in Höhe von 80.000 € zu. Darüber hinaus sprach es ihr 16.000 € für die Anstellung einer Haushaltshilfe zu, weil die Beschwerdeführerin selbst nur noch eingeschränkt beweglich war.
Das Krankenhaus, das für den Kunstfehler verantwortlich war, legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein und der Fall landete schließlich vor dem höchsten Verwaltungsgerichts Portugals.
Dieses erkannte der Beschwerdeführerin zwar weiterhin ein Schmerzensgeld zu, setzte die Höhe dieses Schmerzensgeldes jedoch auf 50.000 € herab. Dabei stütze es sich unter anderem darauf, dass die Beeinträchtigung der sexuellen Empfindungsfähigkeit für die Beschwerdeführerin wenig gravieren sei, weil sie die 50 bereits überschritten habe.
In dem Urteil hieß es dazu unter anderem:
„Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass die Klägerin zur Zeit der Operation bereits 50 Jahre alt war und zwei Kinder hatte, also in einem Alter in dem Sex nicht mehr so wichtig ist wie in jüngeren Jahren, seine Wichtigkeit mit dem Alter schwindend“
Darüber hinaus reduzierte es den Betrag von 16.000 € für die Haushaltshilfe auf 6.000 €. Zur Begründung führte das Gericht unter anderem aus:
„In Anbetracht des Alters ihrer Kinder musste die Klägerin sich wahrscheinlich nur um ihren Ehemann kümmern, dies führt uns zu der Schlussfolgerung, dass sie keine Vollzeit-Haushaltshilfe anstellen musste.“
Rechtliche Beurteilung:
Der EGMR prüfte den Fall im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot des Artikels 14 EMRK. Dieser verbietet Diskriminierung nicht allgemein, sondern lediglich im Hinblick auf die Gewährung eines der Rechte, die die EMRK garantiert. Eine verbotene Diskriminierung liegt also nur dann vor, wenn die Ungleichbehandlung in dem Bereich erfolgt, mit dem sich die EMRK befasst.
Der Gerichtshof klärte daher zunächst, ob das Urteil des höchsten Verwaltungsgerichts den Anwendungsbereich der EMRK berührte. Er kam zu dem Schluss, dass der Fall in den Anwendungsbereich des Rechts auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK fiel. Der Gerichtshof legt diese Vorschrift weit aus; sie umfasst danach zahlreiche Aspekte der Persönlichkeit, unter anderem auch die physische und psychische Integrität einschließlich des Sexuallebens.
Der EGMR wandte sich dann der Frage zu, ob eine diskriminierende Behandlung vorgelegen hatte. Der Gerichtshof führte aus, dass es nicht an sich gegen Art. 14 verstoße, dass das portugiesische Gericht das Alter der Beschwerdeführerin in Betracht gezogen hatte.
Er wies aber daraufhin, dass das portugiesische höchste Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung wesentlich darauf abgestellt hatte, dass Sexualität für eine Frau von über 50 Jahren, die bereits zwei Kinder habe, weniger wichtig sei. Diese Aussage basiere auf einem traditionellen Verständnis der weiblichen Sexualität. Das portugiesische Gericht habe sich bei seiner Entscheidung von einem Stereotyp über die weibliche Sexualität leiten lassen, ohne den Einzelfall zu prüfen und zu ermitteln, ob die Annahme von der geringeren Bedeutung der Sexualität im Falle der Beschwerdeführerin auch zutreffend sei.
Der Gerichtshof führte auch aus, dass das höchste portugiesische Gericht in zwei Fällen, die Männer betrafen, ganz anders argumentiert hatte. Dort hatte es den Betroffenen, die jeweils die 50 schon überschritten hatten und die wegen eines Kunstfehlers impotent geworden waren, Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 € bzw. rund 250.000 € zugesprochen.
Schließich verwies der EGMR noch auf Berichte der UN-Sonderberichterstatterin für die Unabhängigkeit von Richtern, die darauf hingewiesen hatte, dass Gerichtsentscheidungen in Portugal häufig von Stereotypen geprägt seien.
Dem Urteil des EGMR angefügt ist eine interessante abweichende Meinung von drei Richtern: Sie weisen darauf hin, dass der Gerichtshof Diskriminierung normalerweise in drei Schritten prüfe. Er stelle fest, ob es zwei Gruppen von Menschen in vergleichbarer Situation gebe, ob diese aufgrund eines bestimmten Merkmals ungleich behandelt würden und prüfe, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei.
Von dieser Herangehensweise sei der Gerichtshof ohne Not abgewichen. Folge man ihr, stelle man keine Ungleichbehandlung fest. Die Lage der Beschwerdeführerin müsse mit der von Männern mit ähnlichen medizinischen Problemen verglichen werden. Hier lasse sich aber kein Muster in der Rechtsprechung portugiesischer Gerichte erkennen, das auf eine Ungleichbehandlung hindeute. Die Fälle der beiden Männer, die im Urteil zitiert seien, seien Einzelfallentscheidungen und genügten nicht, um ein solche Muster zu zeigen.
Urteil vom 25.07.2017, Beschwerde Nr. 17484/15