Strafgefangene verlieren ihre Freiheit. Doch das ist nicht der einzige Rechtsverlust. Mit dem Entzug der Freiheit und dem Leben in der Anstalt gehen andere Beschränkungen von Grundrechten einher. Natürlich gibt es für dies Beschränkungen auf Grenzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich im Fall Shahanov und Palfreeman gegen Bulgarien mit der Äußerungsfreiheit von Strafgefangen auseinandergesetzt.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer waren ein australischer und ein bulgarischer Staatsbürger. Beide verbüßten langjährige Freiheitsstrafen in Sofia, Bulgarien.
Der erste Beschwerdeführer, Herr Shahanov, legte zwei schriftliche Beschwerden betreffend den Strafvollzug bei der Gefängnisverwaltung ein. Eine verfasste er selbst, eine andere wurde von seiner Frau in seinem Namen eingereicht. In diesen Beschwerden führte er aus, dass ein Mitgefangener damit prahlte, er sei mit zwei Vollzugsbeamten verwandt. Er schüchterte Mitgefangene ein, setzte Gerüchte in Umlauf und sorgte für Unruhe. Auch hätte er angekündigt, bald mithilfe seiner Verwandten aus dem Gefängnis zu fliehen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Diese ergab, dass es keine verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Gefangenen und den Vollzugsbediensteten gab.
Daraufhin verhängte der Gefängnisdirektor zehntägige Einzelhaft gegen den Beschwerdeführer, weil er verleumderische Aussagen und falsche Behauptungen über Vollzugsbeamte gemacht habe. Der Beschwerdeführer beantragte gerichtliche Überprüfung der Entscheidung, aber das zuständige Gericht bestätigte die Entscheidung der Gefängnisverwaltung.
Der zweite Beschwerdeführer bekam 2012 Besuch von Journalisten. Ein israelischer Staatsbürger, der auch in Sofia inhaftiert war, bekam ebenfalls Besuch von Journalisten. Nach Abschluss des Besuches erfuhr der Beschwerdeführer, dass die Vollzugsbeamten unhöflich zu den Besuchern gewesen waren. Sein israelischer Mitgefangener erzählte ihm, dass die Journalisten persönliche Gegenstände wie Mobiltelefone eingeschlossen hätten. Diese seien gestohlen worden; nur Vollzugsbeamte hätten Zutritt zu dem Raum gehabt, in dem die Gegenstände eingeschlossen gewesen seien.
Der Beschwerdeführer legte richtete daraufhin eine schriftliche Beschwerde an den Gefängnisdirektor. In dieser führte er aus: „ Während des Mittagsbesuches am 23.Mai wurden persönliche Gegenstände von Besuchern aus deren Schließfächern gestohlen, die nur für Vollzugsbeamte zugänglich sind (..). Außerdem waren die Vollzugsbeamten sehr unhöflich gegenüber den Besuchern, schrien sie ohne Grund an und beleidigten sie. Könnten Sie bitte eine Untersuchung des Verhaltens während dieser Schicht einleiten, und Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vollzugsbeamten Disziplin üben und sich gegenüber Insassen und Besuchern respektvoll verhalten“.
Der Direktor des Gefängnisses in Sofia führte eine Untersuchung durch. Diese ergab, dass keine Gegenstände abhanden gekommen waren, die den besuchenden Journalisten gehört hatten. Es lag weder darüber noch über unhöfliches Verhalten der Beamten eine Beschwerde der Journalisten vor.
Der Direktor des Gefängnisses verhängte deshalb Disziplinarmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer, weil dieser falsche Behauptungen aufgestellt hatte. Dem Beschwerdeführer wurde für drei Monate das Recht aberkannt, Pakete mit Nahrungsmitteln zu empfangen. Er beantragte eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung, aber das Gericht bestätigte die Entscheidung.
Rechtliche Bewertung:
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte die Sanktionen, die gegen die beiden Strafgefangenen verhängt worden waren, im Hinblick auf die Äußerungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK. Die Äußerungsfreiheit kann eingeschränkt werden, wenn es dafür eine gesetzliche Grundlage gibt, wenn die Beschränkung einem legitimen Ziel dient und wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Es gab eine Grundlage im bulgarischen Recht für die Einschränkung der Äußerungsfreiheit der Beschwerdeführer; es gab auch keine Zweifel, dass diese grundsätzlich einem legitimen Ziel dient. Die einzige Frage, die der EGMR detaillierter prüfte, war, ob die Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Dabei kommt es darauf an, ob die Beschränkung im richtigen Verhältnis zu dem Ziel steht, das sie erreichen soll.
Der Gerichtshof führte aus, dass einerseits Beamte gegen herabwürdigende Äußerungen geschützt werden müssten, weil diese das öffentliche Ansehend der Beamten und ihres Amtes schädigen könnten. Andererseits müsse die besondere verletzliche Position von Strafgefangen berücksichtigt werden. Dies bedeute, dass Behörden es besonders sorgfältig begründen müssten, wenn Sanktionen gegen Strafgefangene wegen ihrer Äußerungen ausgesprochen würden. Bei der Abwägung zwischen diesen Faktoren seien vier Kriterien zu berücksichtigen
– Die Art und der Kontext der Äußerungen
– Der Zusammenhang, in dem sie getätigt worden seien
– Das Ausmaß, in dem sie die Konsequenzen für die betroffenen Beamten gehabt hätten
– Die Schwere der Sanktionen, die den Strafgefangen auferlegt worden seien
Der Gerichtshof führte aus, dass die Vorwürfe der Strafgefangen schwerwiegend gewesen seien; andererseits seien sie in moderater Sprache, sachlich und ohne Beleidigungen vorgetragen worden. Die Behauptungen seien nicht öffentlich gemacht worden und die Beschwerdeführer hätten die für Beschwerden vorgesehenen Kanäle genutzt.
Die Äußerungen hätten keine oder nur sehr geringfügige Auswirkungen auf die betroffenen Vollzugsbeamten gehabt. Es sei auch gerade für Strafgefangene wichtig die Möglichkeit zu haben, Beschwerden einzulegen, weil sie in staatlichem Gewahrsam seien und deshalb eine Beschwerde oft die einzige Möglichkeit sei, ihre Rechte zu wahren. Es müsse deshalb für Strafgefangen möglich sein, in gutem Glauben Beschwerden einzulegen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Schließlich sei zu bedenken, dass die Sanktionen, die den Beschwerdeführern auferlegt worden seien, sehr schwerwiegend gewesen seien. Solche schwerwiegenden Sanktionen könnten nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein – beispielsweise wenn bewiesen sei, dass die Strafgefangen wissentlich falsch Angaben gemacht hätten. Derartige Umstände hätten aber nicht vorgelegen.
Der EGMR stellte daher eine Verletzung der Äußerungsfreiheit gemäß Artikel 10 EMRK fest.
Shahanov und Palfreeman gegen Bulgarien, Beschwerde Nr. 35365/12, Urteil vom 21.07.2016