Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 23.04.2020 entschieden, dass die öffentliche Aussage eines Rechtsanwaltes, er würde niemals Homosexuelle einstellen, eine Diskriminierung im Sinne des EU-Rechtes darstellen könne. Das gelte auch dann, wenn der Arbeitgeber derzeit nicht versuche, eine offene Stelle zu besetzen. Darüber hinaus hat der EuGH sich in dem Urteil mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Voraussetzungen Interessenverbänden in solchen Fällen Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen können.
Sachverhalt
Vorlageverfahren
Das Urteil erging in einem Vorlageverfahren. In manchen Fällen hängt der Ausgang eines Gerichtsverfahrens in einem Mitgliedsstaat der EU davon ab, wie eine Vorschrift des EU-Rechtes auszulegen ist. In solchen Fällen können die Gerichte, die den Fall behandeln, den Europäischen Gerichtshof fragen, wie das EU-Recht in diesem Punkt auszulegen ist. Der Europäische Gerichtshof nimmt dann zu dieser Rechtsfrage Stellung. Er entscheidet also nicht den Rechtsstreit, sondern gibt nur Auskunft darüber, wie bestimmte Aspekte des EU-Rechts zu verstehen sind. Das Gericht des EU-Mitgliedsstaates, das dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt hat, trifft die Entscheidung in dem ursprünglichen Rechtsstreit. Es legt dabei die Auslegung des EU-Rechts zugrunde, die sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ergibt.
Ausgangsfall
Der Ausgangsfall hatte sich in Italien zugetragen. Ein Rechtsanwalt gab ein Interview im Radio. Im Laufe dieses Interviews äußerte er sich zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Auf eine Frage des Moderators sagte er, er würde niemals einen Homosexuellen einstellen.
Daraufhin erhob eine Vereinigung von Rechtsanwälten, die sich auf die Vertretung von Angehörigen der LBGTI-Gemeinschaft spezialisiert hatte, Klage auf Schadensersatz. Der italienische Corte suprema di Cassazione, der schließlich mit dem Fall befasst war, legte dem EuGH schließlich zwei Fragen zum EU-Recht vor. Einerseits wollte er wissen, ob die Äußerung eine Diskriminierung im Sinne der sogenannten EU-Diskriminierungsrichtlinie darstellt.
Rechtliche Beurteilung
Bezug zum Zugang zur Erwerbstätigkeit
Die Diskriminierungsrichtlinie verbietet die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit den Bedingungen für den Zugang zu Erwerbstätigkeit.
Der Rechtsanwalt, gegen den sich die Klage richtete, machte geltend, seine Aussage beeinträchtige nicht den Zugang zu Erwerbstätigkeit. Er habe diese Äußerung nämlich lediglich im Rahmen eines Interviews getätigt, nicht im Kontext eines Bewerbungsverfahrens. Zu der fraglichen Zeit habe er gar keine Stellen zu besetzen gehabt oder ausgeschrieben. Darüber hinaus unterfielen seine Aussagen der Meinungsfreiheit nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der EuGH führte aus, dass der Zweck der Richtlinie darin bestehe, Diskriminierung zu vermeiden. Die Richtlinie konkretisiere das allgemeine Diskriminierungsverbot, das sich aus Art. 21 des EU-Grundrechtecharta ergebe.
Um diesen Zweck umfassend zu erreichen, müsse die Richtlinie weit ausgelegt werden (in diesem Zusammenhang verwies er unter anderem auf seine Entscheidung im Fall CHEZ Razpredelenie Bulgaria gegen Komisia za zashtita ot diskriminatsia ). Auch wenn es zu der fraglichen Zeit kein Bewerbungsverfahren gegeben habe, könnte die Äußerung doch dafür sorgen, dass sich homosexuelle Interessenten im Rahmen bei künftigen Ausschreibungen nicht mehr bewerben würden, weil sie davon ausgingen, keine Chance zu haben. Daher sei es nicht ausschlaggeben, ob es bereits ein laufendes Einstellungsverfahren gegeben habe.
Der Gerichtshof verwies auch auf seine frühere Rechtsprechung. Im Fall Asociatia Acept gegen Consililul National pentru combaterea Discriminarii hatte ein Angehöriger eines Fußballvereins in einem Interview gesagt, er wolle keine homosexuellen Spieler in die Mannschaft aufnehmen. Allerdings hatte diese Person gar keinen Einfluss auf Personalentscheidungen oder Neuverpflichtungen. Der EuGH entschied, dass die Äußerung dennoch eine Diskriminierung darstellen könne. Daraus folgerte er nun, wenn es nicht darauf ankomme, ob die in Rede stehende Person Einfluss auf die Entscheidung über die Einstellung habe, könne es auch nicht maßgeblich sein, ob es überhaupt ein Einstellungsverfahren gebe.
Allerdings sei es erforderlich, dass die Aussagen mit der Einstellungspolitik eines bestimmten Arbeitgebers in Verbindung gebracht werden könnten, damit der Bezug zum Zugang zur Erwerbstätigkeit gewahrt bleibt. Ob dies der Fall sei, sei eine Tatsachenfrage, die von den nationalen Gerichten beurteilt werden müsse.
Darüber hinaus sei auch der Inhalt der Äußerung von Bedeutung. Sie müsse sich auf den Zugang zu Erwerbstätigkeit beziehen und die Absicht erkennen lassen, eine Diskriminierung auf Grundlage der Kriterien vorzunehmen, die in der Richtlinie genannt seien (dazu zählen etwa das Geschlecht, das Alter oder die sexuelle Orientierung).
Zulässige Beschränkung der Meinungsfreiheit
Der EuGH wies darauf hin, dass die Meinungsfreiheit ebenfalls grundrechtlich geschützt sei. Sie sei jedoch kein absolutes Recht, sondern könne unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Hier seien die Voraussetzungen für eine zulässige Beschränkung erfüllt.
Befugnis von Verbänden zur Geltendmachung
Die zweite Frage, mit der sich der EuGH befasste, betraf die Befugnis der Vereinigung von Rechtsanwälten, Schadensersatz geltend zu machen. Die Diskriminierungsrichtlinie sieht vor, dass Staaten Verbänden oder Organisationen das Recht einräumen müssen, Schadensersatzansprüche für betroffene Personen geltend zu machen.
Die Besonderheit des Falles war, dass es niemanden gab, der einen konkreten materiellen Schaden erlitten hatte. Der EuGH war der Auffassung, dass die Richtlinie nicht verlange, dass Staaten Verbänden auch in dieser Konstellation die Möglichkeit geben müssten, Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Andererseits verbiete die Diskriminierungsrichtlinie dies jedoch auch nicht. Es stehe Mitgliedsstaaten der EU frei, solche Regelungen in ihr nationales Recht aufzunehmen. Dem stehe es auch nicht entgegen, dass die Vereinigung von Rechtsanwälten, die den Anspruch geltend gemacht habe, mit der Absicht arbeite, Gewinn zu erzielen.