Verurteilung wegen Beihilfe zum Suizid verstößt nicht gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung
Der Beschwerdeführer ist Arzt und Gründer einer Organisation, die sich für Sterbehilfe einsetzt, („Ärzte für aktive Sterbehilfe“). Der Fall betraf seine Verurteilung wegen Beihilfe zum Suizid in zwei Fällen und wegen versuchter Beihilfe zum Suizid in einem Fall. Der Beschwerdeführer behauptete jedoch, er habe lediglich Informationen über Suizid verbreitet.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer (Svend Lings) ist dänischer Staatsangehöriger, wurde 1941 geboren und lebt in Kopenhagen.
Herr Lings ist der Gründer der Organisation Ärzte für aktive Sterbehilfe (Læger for Aktiv Dødshjælp), die sich für assistierten Suizid einsetzt. Unter diesem Deckmantel veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel „Für den Selbstmord geeignete Medikamente“ im Internet, was nach dänischem Recht legal war. Es handelte sich dabei effektiv um einen Leitfaden für die Selbsttötung, mit detaillierten Beschreibungen der verschiedenen Medikamente, der erforderlichen Dosen, der physischen Methoden, usw.
Im Jahr 2017 wurde Herr Lings nach einem Radiointerview, in dem er angab, jemandem bei der Selbsttötung geholfen zu haben aus dem Ärzteregister gestrichen. Später wurde der Beschwerdeführer wegen Beihilfe zum Suizid in zwei Fällen und wegen versuchter Beihilfe zum Suizid in einem Fall angeklagt. Am 26. September 2018 wurde er in zwei Fällen verurteilt. In der Berufungsinstanz hatte der Oberste Gerichtshof von Ostdänemark (Østre Landsret) ihn jedoch in allen drei Anklagepunkten verurteilt. Diese Entscheidung wurde 2019 dann schließlich vom Obersten Gerichtshof bestätigt.
Zu den Tatsachen, für die der Beschwerdeführer verurteilt wurde gehörte die Verschreibung von Medikamenten (Fenemal) an zwei Personen in dem Wissen, dass diese die Absicht hatten, Suizid zu begehen und die Anweisung an eine weitere Person, sich neben einer Überdosis Medikamente zusätzlich eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. Zwei Personen starben, eine erholte sich später und erlangte trotz der Einnahme der verschreibungspflichtigen Medikamente tatsächlich ihre volle geistige Gesundheit zurück.
Herr Lings wurde schließlich zu einer Freiheitsstrafe von 60 Tagen auf Bewährung verurteilt, wobei sein Alter als mildernder Umstand berücksichtigt wurde.
Beschwerde beim EGMR
Unter Berufung auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention beschwerte sich Herr Lings beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass die endgültige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Dänemark sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Als Begründung führte er an, lediglich allgemeine Ratschläge zum Thema Selbstmord erteilt zu haben.
Entscheidung des Gerichtshofs
Die Verurteilung des Beschwerdeführers stellte einen nach § 240 (dänisches Strafgesetzbuch) gesetzlich vorgeschriebenen Eingriff dar, der die legitimen Ziele des Schutzes der Gesundheit und der Moral sowie der Rechte anderer verfolgte. Der Gerichtshof stellte fest, dass der Beschwerdeführer nicht nur verurteilt worden war, weil er passiv Beratungs- und Aufklärungsarbeit geleistet hatte, sondern auch, weil er aktiv Medikamente für zwei Personen beschafft hatte.
Der Gerichtshof stellte weiterhin fest, dass die Beihilfe zum Suizid in Dänemark seit 1930 unter Strafe steht. Das einschlägige Gesetz setzt für eine Verurteilung voraus, dass eine konkrete Handlung der Beihilfe zum Selbstmord stattgefunden haben muss. Der Gerichtshof hatte jedoch nicht zu entscheiden, ob die Kriminalisierung der Suizidbeihilfe gerechtfertigt war, sondern nur, ob sie in diesem Fall in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Der EGMR stellte weiterhin in diesem Zusammenhang fest, dass die Behörden die Pflicht haben, gefährdete Mitglieder der Gesellschaft zu schützen. Außerdem biete die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Artikeln 2 und 8 der EMRK keinen Anhaltspunkt für die Schlussfolgerung, dass nach der Konvention ein Recht auf Beihilfe zum Suizid bestehe, auch nicht in Form der Bereitstellung von Informationen oder Hilfeleistung, die noch über die Bereitstellung allgemeiner Informationen über den Suizid hinausgehe. Da der Beschwerdeführer nicht wegen der Bereitstellung allgemeiner Informationen über Suizid, sondern wegen Beihilfe zum Suizid durch konkrete Handlungen strafrechtlich verfolgt worden war, ging es in diesem Fall auch nicht um das Recht des Beschwerdeführers, Informationen bereitzustellen, auf die andere ein Recht haben könnten.
Im vorliegenden Fall sah der Gerichtshof keinen Grund, die Schlussfolgerungen des Obersten Gerichtshofs in Frage zu stellen. In Bezug auf die Anklagepunkte 1 und 2 stellte der Oberste Gerichtshof somit einstimmig fest, dass der Beschwerdeführer den verstorbenen Personen durch konkrete Handlungen Beratung geleistet und Medikamente beschafft hatte, von denen er wusste, dass sie diese zum Selbstmord verwenden würden. Der Gerichtshof war der Ansicht, diese Handlungen fielen eindeutig unter § 240 des (dänischen) Strafgesetzbuches und berührten Artikel 10 der EMRK nicht.
Auch in Bezug auf Anklagepunkt 3 hatte der Oberste dänische Gerichtshof den Beschwerdeführer für schuldig befunden. Dies wurde darauf gestützt, dass er
- einer Person in spezifischer und erheblicher Weise bei der Selbsttötung geholfen hatte,
- sein Rat nicht straffrei war, weil er sich auf seinen rechtmäßigen allgemeinen Leitfaden stützte,
- sein spezifischer Rat in höherem Maße als der allgemeine Leitfaden geeignet war, den Selbstmordwunsch der Person zu verstärken, und
- seine Verurteilung nicht gegen Artikel 10 der EMRK verstoßen würde.
Als erschwerender Umstand wurde berücksichtigt, dass die Taten in gewissem Umfang systematisch begangen wurden, dass der Beschwerdeführer in drei Fällen angeklagt und die letzte Tat begangen wurde, nachdem er bereits von der Polizei wegen Verstoßes gegen § 240 (dänisches) StGB vorläufig angeklagt worden war. Das hohe Alter des Beschwerdeführers wurde als mildernder Umstand gewertet.
Der EGMR war der Ansicht, dass die Gründe, auf die sich der Oberste dänische Gerichtshof stützte, als er feststellte, dass die Taten unter § 240 des (dänischen) StGB fielen, stichhaltig und ausreichend waren. Auch seien unter den gegebenen Umständen und der Tatsache, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, die Verurteilung und das Strafmaß nicht übermäßig gewesen.
In Anbetracht all dieser Erwägungen seien die von den innerstaatlichen Gerichten und zuletzt vom Obersten Gerichtshof angeführten Gründe sowohl stichhaltig als auch ausreichend, um festzustellen, dass der beanstandete Eingriff als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ und den verfolgten Zielen angemessen angesehen werden konnte und dass die Behörden des beklagten Staates innerhalb ihres Ermessensspielraums gehandelt hatten, nachdem sie die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dargelegten Kriterien berücksichtigt hatten.
Der Gerichtshof entschied einstimmig, dass keine Verletzung der EMRK vorlag.