In dem Fall Kapa und Andere g. Polen ging es darum, dass staatliche Behörden über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren den extrem starken Autobahnverkehr Tag und Nacht über eine für diesen Zweck ungeeignete, nicht ausgebaute Straße leiteten, die mitten durch eine Stadt in unmittelbarer Nähe der Wohnung der Beschwerdeführer führte. Dies sorgte nach Angaben der Beschwerdeführer dafür, dass die sie schweren Belästigungen in Form von Lärm, Erschütterungen und Abgasen (die über die nationalen und internationalen Regelungen hinaus reichten) ausgesetzt waren.
Hintergrund
Die Kläger, Katarzyna Kapa, Jacek Juszczyk, Mateusz Juszczyk und Barbara Juszczyk, sind polnische Staatsangehörige und wurden 1984, 1958, 1991 bzw. 1959 geboren. Sie leben in Smolice (Polen) und sind eine Familie. Sie wohnen zusammen in einem Haus, das nur wenige Meter von der Nationalstraße N14 in Smolice entfernt ist. Das Haus ist ca. 1 km von einer Kreuzung mit der Autobahn A2 in Stryków entfernt. Im Jahr 2006 wurde der Verkehr während des stufenweisen Baus der Autobahn vorübergehend von diesem örtlichen Autobahnanschluss über die N14 umgeleitet. In den Plänen der Behörden war die Umleitung des Verkehrs über die N14 nicht vorgesehen. Infolge der Eröffnung des ersten Autobahnabschnitts nahm der Verkehr über die N14, insbesondere der Lkw-Verkehr in Richtung Warschau, drastisch zu, was unter anderem zu einer erhöhten Lärmbelästigung, Erschütterungen und Abgasen führte.
Daraufhin wurden mehrere Studien durchgeführt und ein Plan für eine Umgehungsstraße zur Verringerung der Verkehrsbelastung der N14 ausgearbeitet. Eine Studie wies insbesondere auf eine Zunahme der Umweltverschmutzung hin, wobei die Lärmbelastung über die gesetzlichen Regelungen hinausging; eine andere Studie wies auf die Möglichkeit schwerer psychophysiologischer Beschwerden, Krankheiten und vielleicht sogar auf eine Verringerung der Lebenserwartung der Anwohner hin. Alle Anwohner klagten außerdem über Schlafstörungen aufgrund von unerträglichem Lärm, Infraschall und Erschütterungen. Einige von ihnen hatten stressbedingte Autoimmunkrankheiten entwickelt.
Ende 2008 wurde eine Verlängerung der Autobahn A2 eröffnet, die den Verkehr auf der N14 auf ein akzeptables Maß reduzierte, was die Beschwerdeführer auch so bestätigten.
Im Jahr 2009 reichten die Beschwerdeführer eine Klage gegen den Staat ein, um Schadenersatz zu erhalten. Diese Klage wurde von den Gerichten abgewiesen.
Am 30. November 2010 erstellte ein vom Gericht bestellter Sachverständiger ein Gutachten über die Angemessenheit des Verkehrsmanagements durch die Behörden. Der Sachverständige stellte fest, dass der Anstieg des Verkehrsaufkommens auf der N14 für die Anwohner mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden war und dass ein Teil des Anstiegs durch die Zunahme von Gewerbebetrieben entlang der Strecke und durch die Tatsache, dass der angrenzende Autobahnabschnitt mautfrei geblieben war, verursacht wurde. Der Sachverständige stellte außerdem fest, dass der Anstieg nicht vorhersehbar gewesen sei und die Behörden in allen Fragen bis auf die Ad-hoc-Lösungen von 2006 angemessen reagiert hätten. Der Sachverständige kam zu dem Schluss, dass der Ausbau der Autobahn eine wirksame Lösung für das Problem in kürzester Zeit darstellen würde.
Das Landgericht stellte fest dass der Lärmpegel über die gesetzlichen Regelungen hinaus gegangen war. Die Behörden hätten allerdings trotz der übermäßigen Lärmbelästigung die Probleme für die Anwohner schnell erkannt und Ad-hoc- sowie längerfristige Lösungen vorangetrieben. Es kam zu dem Schluss, dass die Behörden im Rahmen der Gesetze gehandelt haben. Es wurde keine Entschädigung zugesprochen.
Die Berufung der Beschwerdeführer wurde 2013 abgewiesen, und eine Kassationsbeschwerde eines Nebenklägers im innerstaatlichen Verfahren wurde aus verfahrensrechtlichen Gründen zurückgewiesen.
Verfahren vor dem EGMR
Unter Berufung auf Artikel 8 der EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) legten die Beschwerdeführer eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, mit der Begründung, die Verlegung des Verkehrs von der A2 auf die N14 habe sie in ihrem Recht auf friedliche Ausübung ihres Privat- und Familienlebens und auf friedliche Nutzung ihres Hauses verletzt. Die Beschwerde wurde am 22. November 2013 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Das Urteil wurde von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt.
Entscheidung des Gerichts
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass der Einzelne ein Recht auf Achtung seiner Wohnung, d.h. nicht nur das Recht auf den tatsächlichen physischen Raum, sondern auch auf die ruhige Nutzung dieses Raums hat. Eine Wohnung ist in der Regel ein physisch definierter Bereich, in dem sich das Privat- und Familienleben abspielt. Verletzungen des Rechts auf Achtung der Wohnung beschränken sich nicht auf konkrete oder physische Verletzungen, wie das unbefugte Betreten der Wohnung einer Person, sondern umfassen auch solche, die nicht konkret oder physisch sind, wie Lärm, Emissionen, Gerüche oder andere Formen der Beeinträchtigung. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung kann somit auch zu einer Verletzung des Rechts einer Person auf Achtung ihrer Wohnung aus Art. 8 EMRK führen.
Der Gerichtshof nahm die Feststellung des Landgerichts zur Kenntnis, dass der Lärmpegel über die gesetzlichen Normen hinausgegangen war. Der Kern der Beschwerde der Kläger bestand darin, dass die Probleme hätten vermieden werden können, wenn die Behörden bei der Durchführung ihrer Straßenverkehrsmanagementpläne sorgfältiger gewesen wären. Insbesondere hätten die Behörden die Einwände des Bürgermeisters von Stryków bezüglich des Endpunkts der Autobahn nicht berücksichtigt, und in den Berichten, die den Entscheidungen der Behörden zugrunde lagen, seien die Auswirkungen der Verkehrszunahme auf der N14 auf die Anwohner nicht berücksichtigt worden, sondern nur der Bau der Autobahn. Der Gerichtshof stellte weiterhin fest, dass der Transitverkehr (und nicht der örtliche gewerbliche Verkehr) einen großen Teil der Verkehrszunahme in dem Gebiet ausgemacht haben muss, insbesondere nachts.
Die Regierung erklärte, dass die Zunahme des Verkehrs nicht vorhersehbar gewesen sei. Der Gerichtshof war anderer Meinung und stellte fest, dass die Behörden das Problem seit 1996 wissentlich ignoriert und das Autobahnprojekt unter völliger Missachtung des Wohlergehens der Anwohner fortgesetzt hatten, wobei sie die Einwände gegen den vorläufigen Endpunkt ignorierten. Er stellte fest, dass die Behörden beim Bau der Autobahn vor schwierigen Entscheidungen standen und einige Versuche unternommen hatten, die Probleme zu lösen. Ihre Versuche hatten jedoch keine Wirkung gezeigt, da die Route über die N14 aus verschiedenen Gründen für viele Autofahrer die bevorzugte Wahl geblieben war. Infolgedessen hatte der Staat die Autofahrer gegenüber den Anwohnern effektiv privilegiert.
Abschließend stellte das Gericht fest, dass die Umleitung des Verkehrs am Haus der Beschwerdeführer vorbei und das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion der Behörden, die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf friedliche Ausübung ihres Privat- und Familienlebens und auf friedliche Nutzung ihres Hauses beeinträchtigt hatte, was zu einer Verletzung von Artikel 8 der Konvention führte.
Das Gericht entschied, dass Polen den Klägern jeweils 10.000 € an Vermögensschaden und insgesamt 750 € an Kosten und Auslagen zu zahlen hat.