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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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EGMR: Kein Recht auf Heimunterricht – Wunderlich gegen Deutschland

Holger Hembach · 11. Januar 2019 ·

Zusammenfassung

Im Fall Wunderlich gegen Deutschland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass Eltern kein Recht haben, ihre Kinder dem Schulsystem zu entziehen und ausschließlich zu Hause zu unterrichten. Die Beschwerdeführer waren ein Ehepaar, das das staatliche Schulsystem ablehnt. Die Eheleute haben vier Kinder. Als ihre älteste Tochter schulpflichtig wurde, meldeten die Beschwerdeführer sie nicht in einer Schule an. Die Behörden verhängten mehrere Geldbußen gegen die Eltern und es wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Die die Eltern die Tochter dennoch nicht zur Schule anmeldeten, entzog das Jugendamt ihnen Teile des elterlichen Sorgerechts einschließlich des Aufenthaltsbestimmungsrechtes. 

Darüber hinaus wurden die Kinder der Beschwerdeführer diesen zeitweilig entzogen und in einem Kinderheim untergebracht. Die Eltern machten geltend, dies verstoße gegen das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK. Der Gerichtshof war der Auffassung, die Maßnahme stelle einen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar.

Dieser Eingriff sei aber nach Art. 8 Abs. 2 gerechtfertigt. Er habe eine gesetzliche Grundlage und diene einem legitimen Ziel, nämlich dem Wohl und der sozialen Integration der Kinder. Weiterer Diskussion bedürfe lediglich, ob der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Hier sei zu berücksichtigen, dass dem Staat ein Einschätzungsspielraum zustehe. Diesen Einschätzungsspielraum hätten die deutschen Gerichte nicht überschritten. Die Gerichte hätten zwischen den Interessen und denen der Kinder sorgfältlig abgewogen. Die Annahme, dass der Schulbesuch zur Integration der Kinder in die Gesellschaft und zum Erlernen des sozialen Umgangs mit anderen erforderlich sei, sei nachvollziehbar. Auch hätten alle Seiten die Gelegenheit gehabt, ihre Standpunkte ausführlich vorzutragen und die zuständigen Gerichte hätten sich mit den Argumenten gründlich auseinandergesetzt.

Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.

 

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführer haben vier Kinder. Sie lehnen das staatliche Schulsystem ab. Im Jahr 2005 erreichte ihre älteste Tochter das Alter, in dem sie schulpflichtig wurde. Die Beschwerdeführer lehnten es ab, sie in einer staatlichen Schule anzumelden. Es wurden mehrere Geldbußen gegen sie verhängt und ein Strafverfahren eingeleitet. Zwischen 2008 und 2011 lebten die Beschwerdeführer mit ihren Kindern im Ausland. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahre 2011 meldeten sie ihre Kinder erneut nicht in einer staatlichen Schule an. 

Im Juli 2012 informierte das Staatliche Schulamt das zuständige Familiengericht darüber, dass die Beschwerdeführer sich weigerten, ihre Kinder in einer Schule anzumelden. Sie übersandten dem Gericht eine Liste von Geldbußen und Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführer und von anderen Vorfällen seit 2005. Das Schulamt kam zu dem Ergebnis, dass die Kinder in einer Parallelwelt aufwuchsen und keine Erziehung erhielten, die sie in die Lage versetzt hätte, am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilzunehmen.

Das Familiengericht Darmstadt führte eine Anhörung durch. In dieser teilten die Beschwerdeführer mit, dass sie ihre Kinder unter keinen Umständen in einer staatlichen Schule anmelden würden. Die Kinder erklärten, dass sie vornehmlich von ihrer Mutter unterrichtet würden. Der Unterricht dauere von 10 bis 15 Uhr, mit einer Mittagspause.

Im September 2012 entzog das Familiengericht Darmstadt den Beschwerdeführern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder und übertrug diese Recht dem Jugendamt. Es entzog den Beschwerdeführern auch das Recht, in Schulangelegenheiten Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen und im Namen ihrer Kinder Rechtsmittel einzulegen. Das Familiengericht übertrug diese Rechte auf das Jugendamt.

Es führte zur Begründung aus, die Weigerung der Eltern, ihre Kinder in einer staatlichen Schule anzumelden, verstoße nicht nur gegen § 67 des Hessischen Schulgesetzes, sondern sei auch ein Missbrauch elterlicher Autorität, der langfristig das Wohl der Kinder gefährde. Unabhängig davon, ob die Kinder durch den Heimunterricht das notwendige Wissen erlangen könnten, seien sie jedenfalls durch den Heimunterricht nicht in der Lage, die notwendigen sozialen Kompetenzen zu erwerben, um am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilzunehmen. Sie müssten anderen Einflüssen ausgesetzt werden als lediglich denjenigen im eigenen Elternhaus.

Die Beschwerdeführer legten Rechtsmittel ein.

Das Jugendamt teilte den Beschwerdeführern mit, dass es einen Test des Wissenstandes der Kinder durchführen wolle, um sie in der Schule in die richtige Klasse einstufen zu können. Die Beschwerdeführer und ihre Kinder weigerten sich, an dem Test teilzunehmen.

Im April 2013 lehnte das Oberlandesgericht Frankfurt das Rechtsmittel im Wesentlichen ab. Es führte aus, dass die Kinder der Beschwerdeführer nicht in der Schule erschienen wären, obwohl das Urteil des Familiengerichts Darmstadt vollstreckbar gewesen sei.

Das Oberlandesgericht verwies auch darauf, dass die Weigerung der Eltern, ihre Kinder zu einer Schule zu schicken, eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohles sei. Es sei eine Abwägung der verschiedenen Interessen anzustellen. Eine Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes sei nicht schon deshalb gerechtfertigt, um Kindern die bestmögliche Erziehung zu ermöglichen. Sie könne lediglich dann gerechtfertigt sein, um Gefahren für das Wohl der Kinder abzuwenden.

Die Beschwerdeführer legten Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese ohne  Begründung nicht zur Entscheidung an.

Trotz der Gerichtsentscheidungen weigerten sich die Eltern weiterhin, die Kinder eine Schule zu schicken. Im August 2013 wurden die Kinder in ein Kinderheim gebracht. Die Kinder mussten dabei einzeln von Polizisten hinausgetragen werden, weil sie sich weigerten, mitzukommen.

Rechtliche Beurteilung

Eingriff in das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK

Der EGMR prüfte den Fall im Hinblick auf eine Verletzung des Rechts auf Respekt vor dem Familienleben nach Art. 8 EMRK. Das Recht auf Respekt vor dem Familienleben kann unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Beschränkungen sind gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK möglich, wenn 

  • sie eine gesetzliche Grundlage haben
  • einem legitimen Ziel dienen
  • in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind

Es war zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig, dass die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und die Entziehung der Kinder und ihre Unterbringung in einem Kinderheim einen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellten. Auch der Gerichtshof sah dies als unproblematisch an.

 

Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK

Es gab auch keinen Zweifel, dass diese Maßnahmen auf § 1666 und § 1666 a BGB gestützt waren. Es gab damit also eine gesetzliche Grundlage.

Die Beschwerdeführer bezweifelten aber, dass die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes einem legitimen Ziel diente. Sie machten geltend, der Entziehung dieser elterlichen Rechte hätte nicht dem Schutz der Gesundheit oder ihrer Rechte und Freiheiten gedient. Die Gesundheit der Kinder sei nicht in Gefahr gewesen. Auch seien die gerichtlichen Maßnahmen nicht aus sonstigen Gründen zum Schutz der Kinder notwendig gewesen. Die Eltern hätten die Kinder zu Hause unterrichtet und ihnen das notwendige Wissen vermittelt. Die zwangsweise Einschulung hätte den Kindern eher geschadet als sie zu schützen.

Der EGMR setzte sich mit diesen Argumenten im Zusammenhang mit der Prüfung des legitimen Ziels nicht näher auseinander. Er stellte fest, dass die Vorschriften, die die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch die Eltern ermöglichten, generell dem Schutz der körperlichen und mentalen Gesundheit der Kinder dienten. Es gebe keinen Grund anzunehmen, dass die Vorschriften in diesem Fall aus einem anderen Grund angewandt worden seien.

Der Gerichtshof konzentrierte seine Prüfung auf die Frage, ob die Beschränkung der elterlichen Rechte in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen seien. Hierbei komme es darauf an, ob die deutschen Behörden und Gerichte relevante und hinreichende Begründung für ihre Entscheidung genannt hätten. Art. 8 EMRK erfordere es, dass eine Abwägung erfolge zwischen den Interessen des Kindes und den Interessen der Eltern. Dabei müsse besonders den Interessen der Kinder Rechnung getragen, die, abhängig von ihrer Bedeutung und Ernsthaftigkeit, den Interessen der Eltern vorgehen könnten.

Es sei auch zu berücksichtigen, dass die deutschen Behörden und Gerichte einen gewissen Beurteilungsspielraum hätten. Durch den direkten Kontakt mit allen betroffenen Personen seien sie in besonderem Maße in der Lage, die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen einzuschätzen.

Der Gerichthof führte aus, dass alleine die Möglichkeit, dass ein anderes Umfeld für ein Kind besser wäre, es nicht rechtfertige, die elterliche Sorge zu beschränken. Dafür müssten andere Gründe vorliegen. Die deutschen Gerichte hätten die Beschränkung der elterlichen Rechte damit gerechtfertigt, dass die betroffenen Kinder in einem “symbiotischen System” aufwüchsen, was es ihnen nicht ermögliche, notwendige soziale Fähigkeiten zu erwerben. Diese Argumentation hielt der Gerichtshof für nachvollziehbar. 

Er verwies auch auf seine frühere Rechtsprechung zur Schulpflicht in Deutschland. In dieser hatte er darauf entschieden, dass es innerhalb des Beurteilungsspielraums liege, den Staaten bei der Umsetzung der Konvention hätten, wenn sie eine Schulpflicht einführten, um Parallelgesellschaften zu vermeiden und eine Integration von Kindern in die Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Ziele seien im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Bedeutung von Pluralismus für die Gesellschaft. 

Die Durchsetzung der Schulpflicht, um die soziale Isolation von Kindern zu vermeiden und sicherzustellen, dass sie in die Gesellschaft integriert würden, sei ein relevanter Grund um die Rechte der Eltern zu beschränken. Es sei auch nachvollziehbar, dass die nationalen Behörden angenommen hätten, dass die Kinder gefährdet seien, wenn die Eltern sie nicht zur Schule schickten, sondern in einem geschlossenen System hielten. 

Der Gerichtshof führte weiter aus, die Gründe, die die deutschen Behörden und Gerichte angeführt hätten, seien auch hinreichend. Die Beschwerdeführer hätten hinreichende Möglichkeiten gehabt, ihren Standpunkt vorzutragen und zu verdeutlichen. Das Familiengericht Darmstadt hätte sowohl sie als auch die Kinder als auch Mitarbeiter des Jugendamtes als Zeugen gehört. Darüber hinaus hätten die Beschwerdeführer ihre Argumente in ausführlichen Schriftsätzen vorgetragen.

Die Entscheidung, das Aufenthaltsbestimmungsrecht teilweise zu entziehen sei auch verhältnismäßig gewesen. Da die Beschwerdeführer sich allen Anordnungen widersetzt hätten, seien mildere Mittel nicht aussichtsreich gewesen.

Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.

 

 

Allgemein Art. 8 EMRK, Heimunterricht, Recht auf Familienleben

Rechtsanwalt Holger Hembach