Das Recht auf Vergessenwerden wird im Zusammenhang mit der DSGVO und dem Google-Spain-Urteil des Europäischen Gerichtshofs lebhaft diskutiert. Dabei sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren, dass auch der EGMR wichtige Urteil zu diesem Fragenkomplex gefällt hat. Ein Beispiel für eine solche Entscheidung ist das Urteil im Fall M.L. und W.W. gegen Deutschland. Die Beschwerdeführer waren wegen Mordes an dem Schauspieler Walter Sedlmayer verurteilt worden. Sie begehrten die Löschung persönlicher Informationen aus Berichten, die immer noch in den Archiven von Medien abrufbar waren.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer waren 1993 in einem Inidzienprozess wegen Mordes an dem Schauspieler Walter Seldmayer zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Sie hatten stets ihre Unschuld behauptet und mehrere Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt. In den Jahren 2007 bzw. 2008 wurden sie aus der Haft entlassen. Auch danach hielten sie daran fest, dass sie unschuldig verurteilt worden seien.
Im Jahr 2000 veröffentlichte das „Deutschlandradio“ eine Reportage mit dem Titel „Walter Sedlmayer vor zehn Jahren ermordet“. In dem Bericht wurden die vollständigen Namen der Beschwerdeführer genannt. Ein Transkript des Berichtes war noch mindestens bis zum Jahr 2007 auf der Website des Deutschlandradios abrufbar.
Die Beschwerdeführer versuchten vor Gericht zu erreichen, dass ihre Namen aus dem Transkript gestrichen würden. Die ersten beiden Instanzen gaben ihnen Recht, aber der Bundesgerichtshof wies die Klage ab. Er führte aus, es sei abzuwägen zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführer und der Pressefreiheit. Das Interesse von Straftätern, nicht mehr mit ihrer Tat konfrontiert zu werden, wiege im Laufe der Zeit immer schwerer. Im Hinblick darauf, dass Täter ihrer Strafe verbüßt hätten und auf ihr Interesse an einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft sei es nicht leicht zu rechtfertigen, wenn weiterhin Informationen über ihre Namen veröffentlicht würden. Auch Täter, die ihre Strafe verbüßt hätten, hätten aber kein absolutes Recht darauf, mit ihrer Tat nicht mehr konfrontiert zu werden. Gerichte müssten hier abwägen. Dabei seien die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Art, in der die Täter dargestellt würden sowie die Verbreitung der Veröffentlichung zu berücksichtigen. Auf Grundlage dieser Kriterien kam der BGH zu der Überzeugung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführer hinter der Pressefreiheit zurücktreten müsse.
Der Bericht habe sich mit einem Verbrechen befasst, das große Aufmerksamkeit in Deutschland hervorgerufen habe. Die Beschwerdeführer seien nicht nur als die Täter porträtiert worden. Die Reportage habe auch erwähnt, dass sie die Tat bis zuletzt bestritten hätten. Auch sei die Verbreitung des Transkripts begrenzt.
Die Beschwerdeführer wandten sich in einem separaten Verfahren auch gegen eine Veröffentlichung auf der Webseite des „Spiegel“. In dieser waren in einem Dossier unter dem Titel „Walter Sedlmayer – Mord mit einem Hammer“ verschiedene Artikel zusammengefasst, die der Spiegel zu der Tat veröffentlich hatte. Darunter war auch ein Beitrag, der die Namen der Beschwerdeführer sowie persönliche Details wie etwa ihren familiären Hintergrund enthielt. Zu dem Bericht gehörten Fotos, die die Beschwerdeführer im Gerichtssaal zeigten sowie in Begleitung von Walter Sedlmayer.
Auch diese Veröffentlichung hielt der Bundesgerichtshof für zulässig.
Schließliche führten die Beschwerdeführer noch ein weiteres Verfahren gegen den Mannheimer Morgen, der ebenfalls Berichte über den Mord an Sedlmayer veröffentlich hatte, in denen die Beschwerdeführer erkennbar waren.
Die Beschwerdeführer legten eine Beschwerde beim EGMR ein.
Rechtliche Bewertung
Allgemeine Erwägungen
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass der Begriff des Privatlebens nach Art. 8 EMRK weit und keiner vollständigen Definition zugänglich sei. Er könne verschiedene Aspekte der Identität einer Person erfassen, darunter auch die Erwartung, dass bestimmte Informationen über eine Person nicht ohne Einverständnis verbreitet werden dürften. Wenn Informationen über eine Person in einem Umfang verarbeitet oder veröffentlicht würden, die nicht von den berechtigten Erwartungen des Betroffenen gedeckt seien, betreffe das das Recht auf Privatleben. Man dürfe sich aber nicht auf Art. 8 EMRK berufen, um sich gegen Veröffentichungen zu wehren, die eine voraussehbare Reaktion auf eigene Handlungen seien.
Es komme in diesem Fall darauf an, das richtige Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Privatlebens der Beschwerdeführer und der Pressefreiheit der Publikationen zu finden, die die Informationen veröffentlicht hätten. Der Gerichtshof unterstrich erneut die essentielle Rolle, die die Medien in einer pluralistischen Demokratie spielten. Dabei hätten die Medien auch die Aufgabe, Informationen für die Öffentlichkeit in Archiven zugänglich zu machen. Dies sei nicht die Hauptaufgabe der Medien; dieser Aufgabe komme aber dennoch eine gewisse Bedeutung zu.
Der EGMR führte weiter aus, dass die nationalen Stellen bei der Beurteilung des richtigen Gleichgewichts zwischen dem Recht auf Privatleben und der Presse- und Äußerungsfreiheit einen gewissen Beurteilungsspielraum genössen. Wenn diese Abwägung im Einklang mit den Kriterien vorgenommen worden sei, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, bedürfe es wichtiger Gründe, wenn der Gerichtshof die Entscheidung nationaler Gerichte in Frage stellen solle. Die Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, seien mit gewissen Modifikationen auch im vorliegenden Fall anzuwenden.
Unterschied zwischen Medien und Suchmaschinen
Der Gerichtshof führte aus, dass ein Unterschied bestehe zwischen der Situation bei Suchmaschinen und beim Anbieten von Online-Informationen durch Medien. Die Medien stellten die Information zur Verfügung, während die Suchmaschinen lediglich zu ihrer Verbreitung beitrügen. Die Tätigkeit der Medien betreffe damit einen Kernbereich der Presse- und Äußerungsfreiheit, die Aktivität der Suchmaschinen dagegen nicht. Daher könne die Abwägung der widerstreitenden Interessen in Bezug auf Suchmaschinen und Medien unterschiedlich ausfallen. Der Gerichtshof bezog sich dabei auch auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Google Spain, in dem sich der EuGH mit dem Recht, vergessen zu werden, auseinandergesetzt hatte. In diesem Fall hatte ein Betroffener sowohl von einer Zeitung als auch von Google gefordert, bestimmte Seiten zu löschen, auf denen Informationen über ihn in Zusammenhang mit einer Insolvenz zu finden waren oder sicherzustellen, dass diese über Suchmaschinen nicht mehr gefunden werden konnten. Auch der EuGH wies darauf hin, dass ein Unterschied zwischen den Ansprüchen gegenüber dem Medium selbst und gegenüber Google bestehen könne. Denn die Zeitung könne sich, anders als Google, auf die Meinungsfreiheit berufen.
Der Gerichtshof prüfte dann die Kriterien, die er in seiner Rechtsprechung entwickelt hat
Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse
Der EGMR wies darauf hin, dass die Ermordung Walter Seldmayers und der sich anschließende Strafprozess, große öffentliche Aufmerksamkeit erregt hätten. Das gelte nicht nur für den ursprünglichen Prozess, sondern auch für die Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens, die die Beschwerdeführer gestellt hätten. Der Gerichtshof schließe sich der Interessenabwägung an, die der BGH vorgenommen habe. Auch die bloße Anonymisierung von Berichten bzw. die Tilgung ihrer persönlichen Daten, die die Beschwerdeführer verlangten, sei ein Eingriff in die Pressefreiheit.
Bekanntheit der betroffenen Personen und des Themas der Berichte
Der EGMR stellte fest, dass sich die deutschen Gerichte nicht zu diesem Kriterium geäußert hatten. Er wies darauf hin, dass die Beschwerdeführer Bekanntheit erst durch das Verbrechen und den Strafprozess erlangt hatten, mit denen ihr Name in Verbindung gebracht wurde. Diese Bekanntheit habe sich im Laufe der Zeit wieder reduziert. Die Beschwerdeführer seien aber keine vollständig unbekannten Personen gewesen.
Früheres Verhalten der Betroffenen
Im Zusammenhang mit dem früheren Verhalten der Beschwerdeführer wies der Gerichtshof darauf hin, dass diese sich selbst an die Presse gewandt hätten, um auf ihre Wiederaufnahmeanträge und andere Rechtsmittel hinzuweisen. Daher sei die Berechtigung des Interesses der Beschwerdeführer, nicht mehr mit ihrer Tat konfrontiert zu werden, reduziert.
Der Inhalt, die Form und die Folgen der Veröffentlichung
Der Gerichtshof merkte an, dass die in Rede stehenden Artikel objektiv gewesen seien und sich innerhalb der Grenzen der Pressefreiheit bewegt hätten. Einige der Veröffentlichungen des „Spiegel“ seien zweifelhaft, insgesamt aber noch von der Äußerungsfreiheit gedeckt. Die Artikel hätten die Beschwerdeführer in objektiver und nicht herabsetzender Weise geschildert.
Umstände, unter denen die Fotos gemacht wurden
Der Gerichtshof setzte sich nur kurz mit den Fotos der Beschwerdeführer auseinander, die veröffentlicht worden waren. Hierzu merkte er an, die Bilder seien 13 Jahre alt, was es unwahrscheinlicher mache, dass die Beschwerdeführer augrund dieser Bilder wiedererkannt werden könnten. Auch porträtierten die Bilder die Beschwerdeführer nicht in herabsetzender Weise.
Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte sich innerhalb ihres Beurteilungsspielraums bewegt hätten, als sie die Veröffentlichung für zulässig erklärten.
Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.
EGMR, Urteil vom 28.06.2018 – 60798/10 und 65599/10