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Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Justizkritik durch einen Rechtsanwalt und Art. 10 EMRK – Ottan gegen Frankreich

Holger Hembach · 26. April 2018 ·

Strafprozess stoßen oft auf öffentliches Interesse – und in einigen Fällen werden sie auch über die Medien geführt. Das kann es mit sich bringen, dass Rechtsanwälte Gerichte kritisieren. Die Frage, welchen Grenzen sie dabei unterliegen, hat vor kurzem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt.

Der Beschwerdeführer war ein französischer Rechtsanwalt. Er hatte in einem Strafprozess die Familie eines jungen Mannes vertreten, der von einem Polizisten erschossen worden war. Gemeinsam mit dem Schützen waren zwei weitere Polizeibeamte angeklagt, denen vorgeworfen wurde, im Ermittlungsverfahren gelogen zu haben, um ihren Kollegen zu schützen.

Das Gericht trennte das Verfahren gegen diese beiden Beamten ab und verwies es an ein anderes Gericht.

Das Hauptverhandlung gegen den Polizisten, der geschossen hatte, dauerte fünf Stunden. An ihrem Ende beantragte der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren (aus den Materialien, die dem EGMR vorlagen, ging nicht hervor, ob es sich dabei um eine Bewährungsstrafe handeln sollte).

Das Gericht sprach den Polizisten frei.

Nach der Verhandlung stellten Journalisten den Rechtsanwälten, die am Verfahren teilgenommen hatten, unmittelbar vor dem Verhandlungssaal Fragen. Der Beschwerdeführer sagte zunächst, die Art wie das Urteil von den Opfern und der sozialen Gruppe, der sich angehörten, aufgefasst werde, sei dramatisch für den sozialen Frieden.

Ein Journalist fragte, ob es eine Erlaubnis zum Töten gebe. Der Beschwerdeführer antwortete: „Oh, ich weiß nicht, ob man das sagen kann. Das ist nicht notwendigerweise eine Erlaubnis zum Töten. Das ist eine Weigerung den Realitäten in diesem Land ins Gesicht zu sehen und der Existenz einer Gesellschaft mit zwei verschiedenen Geschwindigkeiten, nicht nur einer Justiz mit zwei Geschwindigkeiten, sondern wirklich einer Gesellschaft mit zwei Geschwindigkeiten, die sich auf allen Ebenen wiederfindet. Wir leben in Türmen, wir haben die Zentren der Städte getrennt, wir führen Strafverfahren durch, die für die einen mit Verurteilungen enden, für die anderen mit Freisprüchen (…).“

Auf die Frage eines Journalisten, ob er dieses Urteil erwartet oder befürchtet habe, antwortete er:

„Ich habe immer gewusst, dass es mögliche wäre. Eine weiße Jury, ausschließlich weiß, in der nicht alle sozialen Gruppen repräsentiert sind, mit, das kann man wohl sagen, einer extrem schwachen Anklage, extrem zielorientiert geführten Verhandlungen, das war der Weg zum Freispruch ein offener Weg, das ist keine Überraschung“.

Wegen dieser letzten Bemerkungen beantragte die Staatsanwaltschaft ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer. Der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer vertrat die Auffassung, die Äußerung sei noch von der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gedeckt.

Die Staatsanwaltschaft legte Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein. Das Appellationsgericht vertrat die Auffassung, die Äußerung des Rechtsanwaltes habe es an Zurückhaltung und Mäßigung fehlen lassen. Dem Rechtsanwalt komme keine Privilegierung für Äußerungen in Gerichtsverfahren zugute, denn die Äußerung sei außerhalb des Verfahrens gefallen. Die Mitglieder der Jury seien Teile des Gerichts. Der Rechtsanwalt habe seine Kritik an der Hautfarbe der Jury festgemacht. Dies habe eine rassistische Komponente. Es sei noch ein Rechtsmittel gegen den Freispruch möglich gewesen; insofern sei die Kritik auch nicht die letzte Möglichkeit gewesen. Das Gericht sprach eine Ermahnung aus, die mildeste nach dem Gesetz mögliche Disziplinarmaßnahme.

Der Beschwerdeführer legte eine Beschwerde beim EGMR ein.  Er machte geltend, die Disziplinarmaßnahme verstoße gegen seine Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.

Der EGMR stellte fest, dass die Ermahnung des Rechtsanwaltes einen Eingriff in dessen Rechte nach Art. 10 EMRK darstelle. Zu prüfen sei, ob dieser Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 gerechtfertigt sei.

Es gebe mit den Vorschriften über Disziplinarmaßnahmen gegen Rechtsanwälte eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff.

Der Eingriff in die Äußerungsfreiheit diene auch einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz der Ehre und Reputation anderer. Der Beschwerdeführer hatte das bestritten. Er wies darauf hin, dass der die Angehörigen des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe habe beleidigen oder kritisieren wollen. Daher könne seine Disziplinierung auch nicht ihrem Schutz dienen. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Er erkannte an, dass die Disziplinarmaßnahme, unabhängig von den Absichten des Beschwerdeführers, zumindest auf den Schutz der Reputation anderer abgezielthabe.

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass Gerichtsverfahren nicht über die Medien geführt werden sollten. Er war aber der Auffassung, dass der Rechtsanwalt durch seine kritische Bemerkung die Staatsanwaltschaft habe motivieren wollen, Rechtsmittel gegen den Freispruch einzulegen. Daher habe die Äußerung auch der Vertretung seiner Mandanten gedient.

Der Gerichtshof prüfte, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Er führte aus, dass die Bemerkung des Beschwerdeführers einen Beitrag zu einer wichtigen gesellschaftlichen Debatte leiste, nämlich zu der Frage, wie die gesellschaftliche Zusammensetzung von Jurys und der Richterschaft insgesamt den Ausgang eines Verfahrens beeinflusse. Dabei verwies der Gerichtshof auf die Bemühungen Ländern wie den Niederlanden, Großbritannien oder den USA, dafür zu sorgen, dass die Zusammensetzung der Richterschaft auch die Zusammensetzung der Bevölkerung wiederspiegelt.

Der EGMR war der Auffassung, der Beschwerdeführer habe die Mitglieder des Gerichts nicht wegen ihrer Hautfarbe herabsetzen wollen. Vielmehr habe seine Bemerkung auf eine größere gesellschaftliche Diskussion über die Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in der Justiz abgezielt.  Sie füge sich ein in eine gesellschaftliche Debatte über die Justiz in einer diversen Gesellschaft.

Der Rechtsanwalt habe auch die Autorität der Justiz insgesamt nicht in Zweifel ziehen wollen. Auch wenn die verhängte Sanktion die mildeste aller möglichen Disziplinarmaßnahmen gewesen sei, sei selbst dieser Eingriff nicht gerechtfertigt gewesen.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Allgemein Art. 10 EMRK, Äußerungssfreiheit, Justizkritik

Rechtsanwalt Holger Hembach