Haben Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, einen Anspruch auf Übersetzung eines Strafbefehls gegen Sie? Mit dieser Frage befasst sich derzeit der Europäische Gerichtshof. Der Generalanwalt Nils Wahl hat dem Europäischen Gerichtshof vorgeschlagen, sie zu bejahen.
Es gibt eine EU-Richtlinie zum Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren (2010/64/EU). Diese bestimmt, dass Verdächtigte oder Beschuldigte, die die Verfahrenssprache nicht sprechen, einen Anspruch auf Übersetzung der wichtigsten Verfahrensunterlagen haben. Nach Auffassung des Generalsanwalts gehört ein Strafbefehl zu diesen wichtigsten Verfahrensunterlagen.
Das Verfahren, das zu der Vorlage geführt hat, findet in Aachen statt. Das Amtsgericht Düren hatte gegen einen Mann einen Strafbefehl erlassen. Dieser Mann war niederländischer Staatsbürger; er lebte in den Niederlanden und war der deutschen Sprache nicht mächtig. Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten in deutscher Sprache zugestellt. Beigefügt war eine Rechtsbehelfsbelehrung mit einer Übersetzung ins Niederländische. In dieser hieß es, der Einspruch müsse in deutscher Sprache eingelegt werden.
Der Beschuldigte legte gegen den Strafbefehl Einspruch ein. Das Amtsgericht Düren verwarf den Einspruch als verspätet.
Der Verteidiger legte gegen diesen Beschluss des Amtsgerichts Düren Beschwerde ein. Das Verfahren war damit vor dem Landgericht Aachen anhängig. Das LG warf die Frage auf, ob die EU-Richtlinie eine Zustellung in einer Sprache verlange, die der Beschuldigte verstehe. In diesem Fall sei es nämlich möglich, dass der Strafbefehl dem Beschuldigten überhaupt nicht wirksam zugestellt worden sei.Das LG legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vor.
Der Generalanwalt vertrat die Auffassung, ein Strafbefehl sei eine wesentliche Unterlage im Sinne der Richtlinie und müsse daher übersetzt werden. Das Strafbefehlsverfahren sei ein vereinfachtes Verfahren, in dem zunächst keine kontradiktatorische Erörterung stattfinde. Der Betroffene könne sein Recht auf rechtliches Gehör nur dann in vollem Umfang wahrnehmen, wenn er gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen. Es liege daher auf der Hand, dass der Angeklagte seine Rechte nur dann vollständig ausüben könne, wenn er den Strafbefehl verstehe.
Auch handele sich um eine gerichtliche Entscheidung, die rechtskräftig werde, wenn nicht rechtzeitig Einspruch eingelegt werde. Damit weise der Strafbefehl eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Urteil auf. Urteile müssen aber nach der Richtlinie zweifelsfrei übersetzt werden.
Die Pflicht zur Übersetzung ergebe sich auch aus dem Ziel der Richtlinie. Das bestehe nämlich darin, das Recht von Beschuldigten oder Verdächtigen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten. Das Recht von Personen auf Übersetzung, die die Verfahrenssprache nicht verstehen, ergebe sich aus Art. 6 EMRK. Die Richtlinie müsse im Zusammenhang mit diesem Recht gesehen werden. Wenn eine Person durch einen Strafbefehl rechtskräftig verurteilt werden können, ohne seinen Inhalt zu verstehen, würde dies das Recht der Person auf ein faires Verfahren beeinträchtigen.
Schlussanträge des Generalanwaltes sind für den Europäischen Gerichtshof nicht bindend
Rechtssache C278/16, Schlussantrag des Generalanwaltes vom 11.05.2017