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Rechtsanwalt Holger Hembach

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EGMR: Internierung tunesischer Flüchtlinge auf Lampedusa verstieß gegen EMRK

Holger Hembach · 29. Dezember 2016 ·

Im Fall Khlaifia und andere gegen Italien hat sich die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit der Frage befasst, ob die Internierung tunesischer Flüchtlinge auf Lampedusa gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des Rechts auf Freiheit fest, verneinte aber einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.

Sachverhalt:

Die Beschwerde war von drei Männern eingereicht worden. Sie hatten im September 2011 Tunesien mit einem Boot verlassen, das kurze Zeit später von der italienischen Küstenwache aufgehalten worden war. Die Küstenwache brachte sie auf die Insel Lampedusa. Dort wurden die Männer in ein bewachtes Aufnahmezentrum gebracht, das sie nicht verlassen konnten.

Nach zwei Tagen brach eine Revolte unter den Bewohnern des Aufnahmezentrums aus.  Es gelang den Beschwerdeführern, das Aufnahmezentrum zu verlassen und sie zogen mit einer Gruppe von Bewohnern durch die Straßen von Lampedusa. Dort nahm die Polizei sie in Gewahrsam. Sie wurden nach Palermo geflogen und auf zwei Schiffen untergebracht, die im Hafen von Palermo vor Anker lagen.

Die Männer blieben einige Tage auf den Booten. Dann wurden sie vom tunesischen Konsul empfangen und danach nach Tunesien ausgeflogen.

 

Rechtliche Würdigung

Der EGMR prüfte den Sachverhalt im Hinblick auf verschiedene Artikel der EMRK.

–          Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK)

Zunächst setzte er sich mit der Frage auseinander, ob das Recht auf Freiheit nach Artikel 5 EMRK verletzte worden war. Die italienische Regierung machte geltend, der Artikel sei nicht einschlägig. Den Beschwerdeführern sei nämlich ihre Freiheit nicht entzogen worden. Die Einrichtung zur Erstaufnahme auf Lampedusa sei kein Gefängnis und keine Einrichtung für freiheitsentziehende Maßnahmen. Der Zweck der Einrichtung sei es nicht, Flüchtlinge zu internieren, sondern sie zu versorgen und sicherzustellen, dass sie Zugang zu grundlegender Gesundheitsvorsorge und hygienischen Maßnahmen haben.

Die Schiffe, auf die die Beschwerdeführer später verlegt worden seien, sei als eine Art Außenstellen der Einrichtung zur Erstaufnahme anzusehen. Ihr Einsatz sei durch den Brand in der Einrichtung zur Erstaufnahme notwendig geworden. Es müsse berücksichtigt werden, welchem enormen Druck die Behörden in Anbetracht des Andrangs von Flüchtlingen ausgesetzt gewesen seien.  Der Aufenthalt der Beschwerdeführer sei daher weder Haft noch Freiheitsentzug, sondern lediglich ein „Festhalten“ zu Sicherheitszwecken.

Der Gerichtshof wies dieses Argument zurück. Er räumte ein, dass es schwierig sei, die Entziehung der Freiheit von der bloßen Beschränkung der Freiheit abzugrenzen. Der Unterschied sei nur graduell. Oftmals sei es lediglich eine Meinungsfrage, in welche Kategorie ein bestimmtes Verhalten falle. Dennoch obliege des dem Gerichtshof, hier eine Entscheidung zu treffen.  Die Bedingungen, unter denen sich die Beschwerdeführer im Aufnahmezentrum aufgehalten hätten, hätten denen geähnelt, die in einem Gefängnis herrschten. Die Beschwerdeführer hätten sich nur eingeschränkt bewegen können und hätten keinen Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen können. Dies gelte auch für ihren späteren Aufenthalt auf den Schiffen. Letzterer habe über zwölf Tage gedauert. Im Hinblick darauf gehe der Gerichtshof davon aus, dass eine Freiheitsentziehung vorgelegen habe, auf die Artikel 5 EMRK anwendbar sei

Der Gerichtshof führte aus, dass eine Freiheitsentziehung nach Artikel 5 EMRK nur in bestimmten Fällen zulässig sei. Diese Ausnahmefälle seien in Artikel 5 Abs. 1 geregelt. Diese Regelung sei abschließend; weitere Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sei, gebe es nicht. Als Ausnahme komme in diesem Fall lediglich Artikel 5 Abs. 1 f) EMRK in Betracht, der eine Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit einem Ausweisungs- und Auslieferungsverfahren zulasse.

Das setze aber voraus, dass es eine gesetzliche Grundlage für die Freiheitsentziehung gebe. Dabei sei es besonders wichtig, dass das nationale Recht klar zum Ausdruck bringe, unter welchen Voraussetzungen ein Freiheitsentzug erfolgen dürfe. Diese Voraussetzung war nach Auffassung des EGMR nicht erfüllt. Nach seiner Ansicht gab es im italienischen Recht keine hinreichend Grundlage für die Inhaftierung.

Der Gerichtshof stellte daher eine Verletzung des Rechts auf Freiheit nach Artikel 5 EMRK fest.

Der Gerichtshof stellte auch eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 2 EMRK fest. Dieser gibt jedem, der seiner Freiheit beraubt worden ist, das Recht, über die Gründe für die Freiheitsentziehung informiert zu werden. Der Gerichtshof war der Meinung, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass die Beschwerdeführer gewusst hätten, dass sie illegal nach Italien eingereist waren. Dennoch stellte er fest, dass sie keine „offiziellen“ Informationen über die Gründe der Freiheitsberaubung erhalten hatten. Daher sah er Artikel 5 Abs. 2 als verletzt an.

Weiter war der Gerichtshof der Auffassung, dass auch Artikel 5 Abs. 4 verletzt sei. Dieser gibt jedem inhaftierten das Recht, eine gerichtliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung herbeizuführen. Die Beschwerdeführer hatten diese Möglichkeit nicht bekommen.

–          Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK)

Der Gerichtshof prüfte auch einen Verstoß gegen Artikel 3 EMRK. Er führte aus, dass genaue und neutrale Informationen über die Zustände in der Aufnahme und auf den Schiffen nicht erhältlich waren. Aus seiner Sicht war es jedoch unbestreitbar, dass sowohl das Auffanglager als auch die Schiffe stark überbelegt gewesen waren. Der Gerichtshof verwies auf seine Rechtsprechung, derzufolge schon Freiheitsentzug bei Überbelegung für sich genommen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen kann. Er wies aber auch auf die besonderen Umstände hin. Italien war innerhalb kurzer Zeit mit einem gewaltigen Ansturm an Flüchtlingen konfrontiert worden. Der Gerichtshof erkannte an, dass Italien sich bemüht habe, unter diesen schwierigen Umständen medizinische Versorgung und einen hygienischen Grundstandard zu sichern.

Er stellte daher keine Verletzung von Artikel 3 EMRK fest.

 

Khlaifia gegen Italien, Urteil der Großen Kammer vom 15.12.2016, Beschwerde Nr. 16483/12

Allgemein Artikel 5 EMRK, Freiheitsentzug

Rechtsanwalt Holger Hembach