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Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Staatliche Pflichten zur Verhinderung von Zwangsprostitution und Verbot der Zwangsarbeit nach Artikel 4 EMRK – L.E. gegen Griechenland

Holger Hembach · 27. Januar 2016 ·

Artikel 4 EMRK verbietet Sklaverei und Zwangsarbeit. Die Vorschrift verbietet es Staaten nicht nur, selbst Menschen in Sklaverei zu verbringen. Sie erlegt ihnen auch die Pflicht auf, effektive Massnahmen dagegen durchzuführen, dass andere dies tun. Ein Beispiel für den Umfang dieser Pflichten liefert der Fall L.E. gegen Griechenland, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 21.Januar 2016 entschieden hat. Er betraf Menschenhandel zur Zwangsprostitution.

 

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin war eine nigerianische Staatsbürgerin. In Nigeria traf sie K.A (im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind alle Namen anonymisiert). Er versprach ihr, ihr in Griechenland eine Stelle als Kellnerin oder Tänzerin in einem Nachtclub zu verschaffen. Daraufhin reiste sie im Juni 2004 alleine nach Griechenland.

Nach ihrer Ankunft nahm ihr K.A. den Pass ab und sagte ihr, sie solle als Prostituierte arbeiten. Er teilte ihr mit, sie müsse ihm 40.000 Euro geben und verbot ihr, über seine Aktivitäten mit der Polizei zu sprechen. Er behauptete, ein Vodoopriester werde ihr Schicksal für immer zum schlechten wenden, wenn sie ihm das Geld nicht gebe oder ihn verrate.

Die Beschwerdeführerin glaubte ihm. Sie sah keine andere Möglichkeit, ihre „Schulden“ zu bezahlen, als sich zu prostituieren.

Im Juli beantragte die Beschwerdeführerin Asyl in Griechenland. Ein Jahr später wurde ihr ein Platz in einem Aufnahmeheim angeboten, aber sie erschien nicht. Ein weiterer Antrag auf Asyl wurde abgewiesen, weil sie ihn nicht persönlich gestellt hatte.

Die Antragstellerin wurde mehrfach wegen unerlaubter Prostitution verhaftet und freigesprochen. Im November wurde sie in Abschiebehaft genommen, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung in Griechenland hatte.  Dort kam sie in Kontakt mit der Organisation „ Nea Zoi“ („Neues Leben“). Mit Hilfe dieser Organisation erstattete sie Strafanzeige gegen K.A. und seinen Partner D.J.. Sie führte aus, dass diese beiden sie und zwei andere nigerianische Frauen zur Prostitution zwangen. D.J. habe sie bei ihrer Ankunft in Griechenland erwartet und sie nach Anweisung des K.A. auf Kreta zur Prostitution geschickt. Später habe er sie, ebenfalls auf Weisung des K.A., nach Athen geholt. Sie schilderte, dass sie sich nur dadurch von dem Vodoofluch befreien könne, dass sie K.A. 40.000 Euro gebe. Sie gab weitere Details über die beiden anderen Frauen, die sich für K.A. und D. J. prostituieren mussten und bat, die Leitern der Organisation „Neues Leben“, die ihr Hilfe zugesagt hatte, als Zeugin zu vernehmen.

Die Leiterin von „Neues Leben“ sagte aus, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer von Menschenhandel sei. Aus Angst vor dem Vodoopriester könne sie nicht fliehen. Darüber hinaus werde sie mit zwei anderen Frauen die meiste Zeit in einer Wohnung eingesperrt.

Die Akte mit den Ermittlungsergebnissen wurde an den Staatsanwalt geschickt. Die Aussage der Leitern von „Neues Leben“ war in dieser Akte nicht enthalten.

Der Staatsanwalt entschied, keine Anklage gegen K.A. zu erheben. Zur Begründung führte er aus, dass die Beschwerdeführerin kein Opfer von Menschenhandel sei. Sie sei alleine nach Griechenland gereist und sei ohne Aufsicht der Prostitution nachgegangen.

Die Aussage der Leiterin von „Neues Leben“ wurde der Akte beigefügt und die Beschwerdeführerin beantragte beim Staatsanwalt des Berufungsgerichtes, den Fall erneut zu prüfen.

Der Staatsanwalt des Berufungsgerichtes wies den Staatsanwalt der ersten Instanz an, Anklage zu erheben. Dieser klagte daraufhin K.A. und D.J. wegen Menschenhandels an. Da die beiden nicht gefunden werden konnten, wurden Haftbefehle erlassen. D.J. konnte kurze Zeit später gefasst werden. Die Beschwerdeführerin schloss sich dem Verfahren gegen ihn als Nebenklägerin an.

D.J. wurde freigesprochen. Das Gericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer von Menschenhandel war und zur Prostitution gezwungen worden war. Aufgrund aller Zeugenaussagen sei es jedoch nicht bewiesen, dass D.J. ein Mittäter war. Es sei nicht nachgewiesen, dass auch er die Beschwerdeführerin ausgenutzt habe. Die Aussagen der Beschwerdeführerin seien vage gewesen und es sei nicht nachgewiesen, dass D.J. sie zur Prostitution gezwungen habe.

 

Rechtliche Bewertung

Der EGMR prüfte den Fall im Hinblick auf Artikel 4 EMRK. Artikel 4 EMRK verbietet Staaten Sklaverei und Zwangsarbeit. Wie andere Vorschriften der EMRK zieht er darüber hinaus jedoch auch sogenannte positive Pflichten nach sich. Das bedeutet, dass Staaten es nicht nur selbst unterlassen müssen, Personen zur Zwangsarbeit zu verpflichten, sondern darüber hinaus auch tätig werden und Massnahmen ergreifen müssen, damit andere niemanden in Zwangsarbeit verbringen oder versklaven. Der EGMR befasste sich daher mit der Frage, ob Griechenland dieser Verpflichtung entsprechen hatte.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer von Menschenhandel war. Dies hatte auch Griechenland, gegen das sich die Beschwerde richtete, nicht bestritten. Der EGMR unterstrich, dass Artikel 4 einen der fundamentalen demokratischen Werte des Europarates verkörpere. Um dem Menschenhandelt effektiv zu bekämpfen, müssten umfassende Massnahmen getroffen werden um sowohl die Täter zu bestrafen als auch den Handel zu verhindern und die Opfer zu schützen. Daraus ergebe sich zunächst das Erfordernis angemessener rechtliche Vorschriften. Dazu gehöre es, Regelungen zum Schutz der Opfer zu erlassen. Darüber hinaus müssten auch die Regelungen bezüglich Aufenthalt und Immigration angepasst werden, um Opfern Hilfe leisten zu können.

Neben diesen gesetzlichen Verpflichtungen könne sich auch Artikel 4 EMRK auch eine Pflicht zu konkreten tatsächlichen Massnahmen ergeben. Eine solche Verpflichtung könne dann bestehen, wenn konkrete Umstände darauf hingedeutet hätten, dass eine Person ein Opfer von Menschenhandel sei. Unterlasse der Staat solche Massnahmen trotz konkreter Hinweise, sei dies eine Verletzung von Artikel 4 EMRK.

Allerdings könne diese Verpflichtung nicht so interpretiert werden, dass es immer eine Verletzung von  Artikel 4 EMRK darstelle, wenn Staaten sexuelle Gewalt nicht verhindert hätten. Die Verpflichtungen, die sich aus der EMRK ergeben, dürften nicht so interpretiert werden, dass sie Staaten unmögliches abverlangten.

Schliesslich ergebe sich aus Artikel 4 EMRK auch die Verpflichtung, eine effektive Ermittlung durchzuführen, wenn Menschenhandel stattgefunden habe.

Der EGMR führte aus, dass Griechenland wichtige internationale Empfehlungen im Bezug auf Gesetze zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt habe. Der Staat habe damit den Verpflichtungen entsprochen, die sich aus Artikel 4 EMRK ergeben.

Der Gerichtshof prüfte dann, ob Griechenland auch seine Verpflichtungen zu praktischen Massnahmen erfüllt habe. Er stellte fest, dass die Beschwerdeführerin zum ersten Mal erklärt hatte, dass sie zur Prostitution gezwungen werde, als sich in Abschiebehaft genommen worden war. Zu diesem Zeitpunkt hätten also für die Behörden konkrete und vernünftige Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer des Menschenhandels war. Folglich seien die Behörden verpflichtet gewesen, ihr zu diesem Zeitpunkt Hilfe und Schutz anzubieten.

Tatsächlich hätte die Polizei umgehend eine Untersuchung in die Wege geleitet. Auch sei die Abschiebung im Hinblick auf den Status der Beschwerdeführerin gestoppt worden. In diesen Punkten habe der griechische Staat seine Pflicht erfüllt. Allerdings habe der Staatsanwalt es zunächst abgelehnt, Anklage zu erheben, weil nicht nachgewiesen sei, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung sei – und zwar obwohl die Leiterin der Hilfsorganisation „Neues Leben“ dies ausdrücklich bestätigt habe. Erst auf den Antrag der Beschwerdeführerin bei dem Staatsanwalt der höheren Instanz sei sie als Opfer von Menschenhandel anerkannt worden. Durch diese zeitliche Verzögerung habe Griechenland die Pflichten verletzt, die sich aus Artikel 4 EMRK ergeben hätten.

Der Gerichtshof stellte daher eine Verletzung der Konvention fest.

Allgemein Artikel 4 EMRK, Griechenland, Menschenhandel, Zwangsprostitution

Rechtsanwalt Holger Hembach