Die Frage, ob Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes verboten werden kann, ein Kopftuch zu tragen, wird kontrovers diskutiert. Die einen verweisen auf die Religionsfreiheit; die anderen machen geltend, dass Repräsentanten eines weltanschaulich neutralen Staates auch selbst neutral auftreten sollten.
Im Fall Ebrahimian gegen Frankreich hat sich nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dieser Frage auseinandergesetzt. Das Urteil ist nicht die erste Entscheidung des EGMR zu diesem Thema. Es unterscheidet sich aber von den meisten der bisher entschiedenen Fälle, dass er nicht das Tragen eines Kopftuches in Schulen oder Universitäten betraf.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin war eine französische Staatsbürgerin muslimischen Glaubens. Sie wurde im Jahre 1999 als Sozialassistentin in der psychiatrischen Abteilung eines öffentlichen Krankenhauses in Frankreich eingestellt. Ihr Vertrag war zunächst auf drei Monate befristet und wurde dann um ein Jahr verlängert.
Es kam zu Beschwerden von Patienten und Kollegen der Beschwerdeführerin darüber, dass sie während der Arbeit ein Kopftuch trage. Die Personalabteilung des Krankenhauses forderte die Beschwerdeführerin
Kurz vor dem Auslaufen ihres Vertrages informierte der Direktor der Personalabteilung des Krankenhauses darüber, dass ihr Vertrag nicht erneut verlängert werden würde. Er begründete dies damit, dass sich die Beschwerdeführerin weigerte, während der Arbeitszeit ihr Kopftuch abzulegen und dass dies zu Beschwerden von Patienten geführt hätte.
Die Beschwerdeführerin teilte schriftlich mit, dass sie die Entscheidung für illegal halte, weil sie durch ihre Religion und ihre muslimische Erscheinung motiviert sei.
Das Krankenhaus teilte mit, die Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, sei nicht wegen ihrer Religion getroffen worden. Der Grund sei nicht ihre Religion, sondern ihr Erscheinungsbild – ihre Weigerung, das Kopftuch während der Arbeitszeit abzulegen und die Beschwerden durch Patienten.
Es verwies auch auf eine Entscheidung des Conseil d’ Etat vom 03.05.2000. Diese besagte, dass es gegen die Prinzipien der Neutralität des Staates und Säkularität verstosse, wenn Repräsentanten des Staates religiöse Symbole trügen.
Die Beschwerdeführerin erhob Klage. Das zuständige Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Es verwies auf die Neutralität des Staates und darauf, dass die Beschwerdeführerin mehrfach von Vorgesetzten und Kollegen auf Beschwerden hingewiesen worden sei und gebeten worden sei, das Kopftuch abzulegen.
Die Beschwerdeführerin legte Rechtsmittel ein. Das Rechtsmittelgericht gab ihrer Klage statt – allerdings mit einem eher formalen Argument. Die Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, sei der Sache nach eine Disziplinarentscheidung. Daher hätte die Verwaltung des Krankenhauses die Regeln für solche Entscheidungen anwenden und ihr Akteneinsicht gewähren müssen.
Die Verwaltung des Krankenhauses gewährte der Beschwerdeführerin Akteneinsicht. Danach verwies sie auf das Recht, die gleiche Entscheidung erneut zu treffen und teilte der Beschwerdeführerin mit, ihr Vertrag werde nicht verlängert.
Dieses Mal wurde diese Entscheidung in von französischen Gerichten in letzter Instanz bestätigt.
Die Beschwerdeführerin legte Beschwerde beim EGMR ein.
Rechtliche Beurteilung
Der EGMR prüfte die Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit der Gewissens- und Religionsfreiheit nach Artikel 9 EMRK.
Die Religionsfreiheit gehört zu denjenigen Rechten der Konvention, die unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden dürfen. Wenn der EGMR einen Fall bearbeitet, in dem es um Religionsfreiheit geht, geht der Gerichtshof in zwei Schritten vor. Er prüft zunächst, eine ein Eingriff in die Religionsfreiheit vorliegt, ob also das Recht, seine Religion zu bekennen, beschränkt worden ist. Dann prüft er im zweiten Schritt, ob der Eingriff gerechtfertigt war.
Der erste Schritt bereitete dem EGMR wenig Probleme. Alle Beteiligten waren sich einig, dass das Tragen eines Kopftuches ein öffentliches Bekenntnis zum Glauben der Beschwerdeführerin darstellte. Es war auch unstreitig, dass die Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, weil sie auf dem Tragen des Kopftuches bestand, einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellte.
Der Gerichtshof wandte sich daher der zweiten Frage zu, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Artikel 9 EMRK knüpft Eingriffe in das Recht auf Religionsfreiheit an drei Voraussetzungen:
- Es muss eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff geben
- Der Eingriff muss einem legitimen Ziel dienen
- Er muss in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein.
Der EGMR prüfte zunächst, ob es eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Entscheidung gegeben hatte, den Vertrag der Beschwerdeführerin nicht zu verlängern. Gesetzliche Grundlage bedeutet dabei zunächst, dass es im nationalen Recht eine Norm geben muss, das in Frage stehende Verhalten rechtfertigt. Allein das reicht aber nicht aus. Nach Meinung des EGMR ist vielmehr erforderlich, dass das Gesetz, das die Grundlage für den Eingriff bildet auch bestimmten inhaltlichen Anforderungen entspricht. Vor allem muss es hinreichende klar formuliert sein, damit ein Bürger vorhersehen kann, welche Konsequenzen die Vorschrift hat und unter welchen Umständen sie angewandt werden kann. Darüber hinaus muss das Gesetz auch im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien stehen.
Ein wichtiges Argument der Beschwerdeführerin war, dass es im französischen Recht keine Vorschrift gegen das Tragen eines Kopftuches gab.
Der Gerichtshof führte aus, dass die Neutralität des Staates und das Prinzip des Säkularstaates wichtige Prinzipien der französischen Verfassung sind. Er verwies auch auf Entscheidungen des Conseil Constitutionell, denen zufolge das Prinzip der Neutralität wichtig für alle Repräsentanten des Staates sein, vor allem für diejenigen, die im Erziehungssektor tätig seien. Dies war nach Auffassung des Gerichtshofes eine hinreichende Grundlage für Beschränkungen der Religionsfreiheit.
Allerdings räumte der Gerichtshof auch ein, dass es keine Vorschrift gab, die das Prinzip der Neutralität für die Mitarbeiter von öffentlichen Krankenhäusern zum Gegenstand hatte. Daher kam er zu dem Schluss, dass es zum Zeitpunkt ihrer Einstellung für die Beschwerdeführerin nicht vorhersehbar gewesen sei, dass ihr das Tragen eines Kopftuches verboten gewesen sei.
Allerdings hatte der Conseil d’Etat im Mai 2000 entschieden, dass eine Person wegen des Tragens eines Kopftuches aus ihrer Stelle an einem Studienkolleg entlassen werden konnte. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung hatte der Conseil d’Etat auch ausgeführt, dass das Prinzip der Neutralität im gesamten öffentlichen Dienst gelte.
Spätestens seit dieser Entscheidung musste es nach Auffassung des EGMR der Beschwerdeführerin klar sein, dass auch ihr das Tragen eines Kopftuches verboten war und dass sie deshalb mit Konsequenzen zu rechnen hatte.
Der EGMR befasste sich nun mit der Frage, ob der Eingriff einem legitimen Zweck diente. Dies war problematischer als in den meisten anderen Fällen, in denen der EGMR Entscheidungen zum Kopftuchverbot getroffen hatte. In diesen hatte es sich in der Regel um Fälle gehandelt, in denen die Betroffenen das Kopftuch an Schulen, Universitäten oder anderen Bildungsrichtungen getragen hatten. In diesen Fällen hatte der legitime Zweck des Verbotes darin gelegen, dass Kinder und Jugendliche vor Einflussnahme geschützt werden sollten. Die Beschwerdeführerin verneinte daher, dass das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, im Zusammenhang mit ihren Aufgaben als Sozialassistentin irgendeinem berechtigten Zweck dienen konnte.
Dennoch ging der Gerichtshof davon aus, dass das Verbot einem legitimen Zweck diene. Dieser sei es, die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen. Gegenüber allen Nutzern öffentlicher Dienste müssten alle Repräsentanten öffentlicher Einrichtungen strikt neutral auftreten, auch Respekt gegenüber Patienten anderen Glaubens und um das Vertrauen in die Gleichbehandlung aller Patienten aufrecht zu erhalten.
Schliesslich bejahte der Gerichtshof auch das letzte Erfordernis für eine Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf Religionsfreiheit, die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft. Das Prinzip des Säkularstaates und der Neutralität des Staates seien von grosser Bedeutung. Es sei auch zu berücksichtigen, dass Patienten der Psychiatrie, mit denen die Beschwerdeführerin umzugehen habe, besonders schutzbedürftig seien. Neutralität sei auch von Bedeutung, um die Gleichbehandlung aller Patienten zu sichern bzw. schon den Anschein einer Ungleichbehandlung zu vermeiden.
Zu berücksichtigen sei ferner, dass der Staat in diesem Bereich einen grossen Beurteilungsspielraum habe. Frankreich habe diesen Beurteilungsspielraum genutzt, aber nicht überschritten, zumal es im Bezug auf religiöse Symbole im öffentlichen Dienst in den Mitgliedsstaaten des Europarates keine einheitliche Praxis gebe.
Nach alledem sei es kein unzulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit gewesen, den Vertrag der Beschwerdeführerin nicht zu verlängern.
Urteil vom 26.11.2015, Beschwerde Nr. 64846/11