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Rechtsanwalt Holger Hembach

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Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK und Widerruf der Bewährung

Holger Hembach · 24. November 2015 ·

Welche Bedeutung hat die Unschuldsvermutung, wenn ein Gericht eine Bewährung wegen einer neuen Tat widerrufen möchte? Mit dieser Frage hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall El Kaada gegen BR Deutschland auseinandergesetzt.

Das deutsche Strafrecht sieht vor, dass Gefängnisstrafen unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden können. Das bedeutet, dass der Angeklagte zwar verurteilt wird, tatsächlich aber seine Freiheitsstrafe nicht antreten muss. Vielmehr kann er über einen bestimmten Zeitraum, den das Gericht bestimmt, beweisen, dass er in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen (Bewährungszeit). Begeht der Verurteilte in dieser Zeit keine neuen Straftaten, muss er seine Freiheitsstrafe endgültig nicht verbüssen. Wenn er allerdings eine neue Straftat begeht, kann  die Bewährung widerrufen werden. Der Verurteilte muss also die ursprüngliche Freiheitsstrafe antreten – und kann darüber hinaus natürlich weiterhin wegen der neuen Straftat belangt werden, die er in der Bewährungszeit begangen hat.

Regelungen über die Bewährung gibt es sowohl im Erwachsenenstrafrecht als auch im Jugendstrafrecht. Bei Erwachsenen können Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Verhängt das Gericht eine Strafe von bis zu einem Jahr, ist die Strafausetzung zur Bewährung die Regel; bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren müssen besondere Umstände vorliegen, die die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen (§ 56 StGB). Für Jugendliche findet sich eine parallele Regelung im § 21 JGG.

Im Fall  El Kaada gegen BR Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage auseinandergesetzt, welche Anforderungen an die Feststellung der neuen Straftat zu stellen sind, derentwegen die Bewährung widerrufen werden soll.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde zunächst durch das Amtsgericht Gladbeck wegen verschiedener Straftaten wie Körperverletzung, Diebstahl und Untreue zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Amtsgericht wendete Jugendstrafrecht an; die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht machte dem Beschwerdeführer zur Auflage, keine weiteren Straftaten zu begehen und gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte das Gericht darüber, dass er den Beschwerdeführer auch bezüglich der Bewährung weiterhin vertreten werde.

Einige Monate wurde erneut ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Diebstahls geführt. Das Amtsgericht Gladbeck erliess einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Er wurde verhaftet und am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt.

Der Anwalt des Beschwerdeführers informierte die Staatsanwaltschaft, dass er den Beschwerdeführer in dem Ermittlungsverfahren vertrete. Der Brief des Anwalts ging am gleichen Tag bei der Staatsanwaltschaft ein, an dem der Beschwerdeführer dem Haftrichter vorgeführt wurde. Bei der Vernehmung des Beschwerdeführers durch den Haftrichter war der Anwalt nicht anwesend.

Der Beschwerdeführer gestand gegenüber dem Haftrichter den Diebstahl und äusserte sich auch zu Einzelheiten der Tat.

Kurz darauf widerrief er das Geständnis bei einem Haftprüfungstermin in Anwesenheit seines Anwalts. Er erklärte, er hätte das Geständnis nur abgelegt, weil ein Polizist ihm gesagt habe, bei einem Geständnis würde er nicht in Untersuchungshaft kommen.

Zwei Tage später widerrief das Amtsgericht die Bewährung. Zur Begründung führte es aus, dem Beschwerdeführer sei zur Auflage gemacht worden, keine neuen Straftaten zu begehen. Dennoch habe der Beschwerdeführer einen Diebstahl begangen. Dies ergebe sich aus seinem Geständnis.

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen den Widerruf der Bewährung ein. Er brachte unter anderem das Argument vor, es verstosse gegen die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK, wenn die Bewährung wegen einer Tat widerrufen werde, für die er noch nicht verurteilt worden sei.

Das Landgericht liess sich davon aber nicht überzeugen. Nach seiner Auffassung war der Widerruf der Bewährung gerechtfertigt. Der Widerruf wegen einer neuen Straftat setze nicht voraus, dass der Betroffene wegen dieser Straftat rechtskräftig verurteilt worden sei. Vielmehr könne das zuständige Gericht sich auch mit anderen Mitteln davon überzeugen, dass eine neue Straftat begangen worden sei. Es reiche aus, wenn der Betroffene die Straftat vor einem Richter gestanden habe. Die Unschuldsvermutung stehe dem nicht entgegen. Sie gelte nur in Strafverfahren gegen den Betroffenen; wenn es um den Widerruf der Bewährung gehe, sei sie dagegen nicht anwendbar.

Das Gericht führte aus, es hege keine Zweifel an der Richtigkeit des ursprünglichen Geständnisses, zumal der Beschwerdeführer sich auch zu Einzelheiten der Tat geäussert habe und diese Einzelheiten zu dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen gepasst hätten.

Der Beschwerdeführer legte Verfassungsbeschwerde ein, aber das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Daraufhin legte der Beschwerdeführer Menschenrechtsbeschwerde ein.

 

Rechtliche Beurteilung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte klar, dass die Unschuldsvermutung – entgegen der Auffassung des Landgericht – nicht nur auf Strafverfahren gegen einen Beschuldigten anwendbar sei. Die Unschuldsvermutung sei ein wesentlicher Bestandteil eines fairen Verfahrens und diene dazu, vorverurteilende Aussagen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zu verhindern. Artikel 6 Absatz 2 EMRK schütze den Beschuldigten umfassend davor, durch staatliche Stellen ausdrücklich oder implizit als schuldig dargestellt zu werden. Daher sei die Unschuldsvermutung immer dann verletzt, wenn offizielle Stellen ausdrücklich sagten oder den Eindruck erweckten, dass eine Person einer Straftat schuldig sei, bevor diese Person verurteilt worden sei.

Das Amtsgericht und das Landgericht hätten die Bewährung widerrufen, weil der Beschwerdeführer eine neue Straftat begangen habe. Damit hätten sie den Beschwerdeführer schon vor seiner Verurteilung als schuldig behandelt. Dies verletzte die Unschuldsvermutung.

Damit bestätigte der EGMR die Grundsätze, die er bereits im Urteil Böhmer gegen Deutschland beschrieben hatte. Die Bundesregierung führte aus, der Fall Böhmer habe anders gelegen. Dort habe es sich um einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach Erwachsenenstrafrecht gehandelt. Im vorliegenden Fall gehe es dagegen um den Widerruf bei einem Jugendlichen nach § 26 JGG.

Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Nach Auffassung des Gerichtshofs bestehe sachlich kein Unterschied zwischen dem Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Tat im Erwachsenstrafrecht und im Jugendstrafrecht.

Nach Auffassung des EGMR war der Widerruf auch nicht durch das Geständnis des Beschwerdeführers gerechtfertigt. Der Gerichtshof verwies darauf, dass der Beschwerdeführer das Geständnis in Abwesenheit seines Rechtsanwaltes abgelegt hatte und es später im Beisein seines Verteidigers widerrufen hatte. Jedenfalls deshalb konnte der Widerruf der Bewährung nach Auffassung des EGMR nicht auf das Geständnis gestützt werden.

Im Ergebnis hat der EGMR also unterstrichen, dass ein Widerruf der Bewährung wegen einer neuen Straftat voraussetzt, dass der Beschuldigte wegen dieser Straftat verurteilt worden ist.

Urteil vom 12.11.2015, Beschwerde Nr. 2130/10

Allgemein Artikel 6 EMRK, Deutschland, Recht auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung, Widerruf der Bewährung

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