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Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Entlassung aus dem Richteramt und das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK – Saghatelyan gegen Armenien

Holger Hembach · 23. Oktober 2015 ·

Im Fall Saghatelyan gegen Armenien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Entlassung einer Richterin gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK verstiess. Dieses beinhaltet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes grundsätzlich auch ein Recht auf Zugang zu einem Gericht. In der Entscheidung hat der EGMR erneut klargestellt, in welchem Umfang sich auch Personen auf dieses Recht berufen können, die im Staatsdienst tätig sind.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin hatte in Armenien als Richterin gearbeitet. Gegen sie waren drei Mal Disziplinarverfahren wegen Verstössen gegen die Strafprozessordnung durchgeführt worden, die zu Ermahnungen geführt hatten.

Im Jahre 2004 beantragte der Justizminister beim Justizrat, die Beschwerdeführerin zu entlassen. Der Justizrat war ein Gremium, das nach der damaligen armenischen Verfassung mit bestimmten Entscheidungen über die Justiz und die Karriere von Richtern betraut war. Er hatte unter anderem das Recht, die Entlassung von Richtern zu empfehlen. Der Präsident der Republik war zugleich der Präsident des Justizrates; ausser dem Präsidenten gehörten dem Justizrat der Justizminister und der Generalstaatsanwalt an, sowie weitere 14 Mitglieder, die vom Präsidenten ernannt wurden.

Der Justizrat prüfte den Antrag und empfahl die Entlassung der Richterin. Der Präsident Armeniens folgte der Empfehlung und erliess ein Dekret, die Richterin zu entlassen.

Die Richterin erhob bei einem Zivilgericht Klage gegen die Entlassung. Das Zivilgericht erklärte sich für unzuständig. Es stützte sich dabei auf einen Artikel der Zivilprozessordnung, demzufolge staatliche Akte, für deren Überprüfung das Verfassungsgericht zuständig war, nicht von Zivilgerichten untersucht werden konnten. Die Verfassung sah damals vor, dass Dekrete des Präsidenten vom Verfassungsgericht annuliert werden konnten. Beschwerden oder Anträge beim Verfassungsgericht konnten vom Präsidenten, der Regierung, einer Mehrheit des Parlaments und Kandidaten für das Präsidentenamt eingereicht werden.

Der Höchste Gerichtshof von Armenien bestätigte die Entscheidung des Zivilgerichtes in letzter Instanz.

 

Rechtliche Beurteilung:

Die Richterin legte eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Sie stützte sich dabei auf Artikel 6 EMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet.

Im Text dieses Artikels steht allerdings nichts von dem Recht, Zugang zu einem fairen Verfahren zu haben. Es gab deshalb Stimmen, nach denen die Vorschrift garantiert, dass ein Prozess fair sein muss, wenn er einmal begonnen hat – aber nicht, dass ein es überhaupt zu einem Verfahren kommt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch bereits 1975 im Urteil Golder gegen Grossbritannien entschieden, dass Artikel 6 EMRK grundsätzlich auch das Recht auf Zugang zu einem Gericht garantiert.

Allerdings gilt dieses Recht nicht in allen Fällen. Eine Ausnahme kann beispielsweise dann gelten, wenn der Betroffene für den Staat arbeitet. Dann schuldet er dem Staat ein gewisses Mass an Loyalität, so dass es gerechtfertigt sein kann, seine Rechte gegenüber dem Staat einzuschränken. Mit anderen Worten: Wer selbst mit staatlichen Aufgaben betraut ist und dafür vom Staat bezahlt wird, muss dann mit bestimmten Entscheidungen des Staates in diesem Bereich einfach leben.

Auf diesen Grundsatz berief sich die armenische Regierung. Sie argumentierte, als Richterin habe die Beschwerdeführerin selbst öffentliche Aufgaben wahrgenommen. Deshalb geniesse sie keinen Rechtsschutz, wenn sie von dieser Aufgabe entbunden werde. Die armenische Regierung berief sich dabei auf ein früheres Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Der Gerichtshof wies diese Argumentation jedoch zurück. Er stellte klar, dass Artikel 6 EMRK grundsätzlich auch für Personen gilt, die im öffentlichen Dienst tätig sind oder öffentliche Funktionen ausüben. Zwar könnte die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, für diese Personen beschränkt werden. Dies sei aber an zwei Voraussetzungen gebunden: Zunächst müsse die Beschränkung gerade in dem Bereich erfolgen, in der der Betroffene öffentliche Funktionen erfülle oder aufgrund dieser Funktionen vorgenommen werden. Und zweitens müsse die Beschränkung wegen der Funktion gerechtfertigt sein.

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte fehlte es bereits an der ersten Voraussetzung: Der Beschwerdeführerin war nicht deshalb die Möglichkeit verweigert worden, ihre Entlassung Prüfung zu lassen, weil sich Richterin war. Vielmehr hatte diese Beschränkung gar nichts mit ihrer Funktion zu tun; sondern bestand für alle Bürger Armeniens. Das Zivilgericht war für die Überprüfung von Dekreten des Präsidenten nicht zuständig, egal wer diese Überprüfung begehrte. Das Verfassungsgericht war zwar zuständig, konnte aber nur vom Präsidenten, der Regierung oder einer parlamentarischen Gruppe angerufen werden. Insofern war allen Bürgern – gleich ob Richter oder nicht – der Zugang hier verwehrt.

Nach der Rechtsprechung des EGMR musste der Beschwerdeführerin entweder eine gerichtliche Überprüfung ihrer Entlassung möglich sein, oder das Verfahren vor dem Justizrat musste den Anforderungen an ein faires Verfahren genügen. Da keine gerichtliche Überprüfung möglich war, setzte der Gerichtshof sich mit der Frage auseinander, ob das Verfahren vor dem Justizrat den Anforderungen von Artikel 6 EMRK genügt hatte.

Diese Vorschrift garantiert unter anderem ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. Nach Auffassung des Gerichtshofes war der Justizrat weder unabhängig noch unparteiisch gewesen, weil ihm politische Mandatsträger wie der Präsident der Republik und der Justizminister angehört hatten.

Daher stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK fest.

 

Saghatelyan gegen Armenien, Urteil vom 20.10.2015, Beschwerde Nr. 7984/06

Allgemein Armenien, Artikel 6 EMRK, Faires Verfahren

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