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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Äusserungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK und Leugnung des Völkermordes an den Armeniern – Perincek gegen die Schweiz

Holger Hembach · 21. Oktober 2015 ·

Die Meinungsfreiheit ist in demokratischen Gesellschaften wichtig. Sie hat allerdings auch Grenzen. Wo diese Grenzen verlaufen ist häufig schwer zu bestimmen. Mit einer besonders schwierigen Entscheidung war die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Perincek gegen die Schweiz konfrontiert.

Der Beschwerdeführer war in der Schweiz strafrechtlich verurteilt worden, weil er die türkische Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 geleugnet hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht hatte zu entscheiden, ob diese Verurteilung sein Recht auf Meinungs- und Äusserungsfreiheit verletzte.

 

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war ein türkischer Politiker, der einer linksgerichteten Partei angehörte. Im Jahr 2005 nahm er an drei politischen Versammlungen in der Schweiz teil. Nach einer der Veranstaltungen äusserte er in einer Pressekonferenz, der Völkermord an den Armeniern sei eine „internationale Lüge“.  Imperialisten aus dem Westen und dem zaristischen Russland wären für die Konflikte  zwischen Türken und Armeniern verantwortlich gewesen, die zuvor Jahrhunderte lang friedlich miteinander gelebt hätten. Mit dieser „Lüge“ hätten sie beabsichtigt, das ottomanische Reich zu schwächen.

Bei einer weiteren Veranstaltung verteilte der Beschwerdeführer ein Flugblatt, das er selbst verfasst hatte. In diesem Flugblatt bestritt er, dass die Massaker an den Armeniern einen Völkermord darstellten.

Im Rahmen der dritten Veranstaltung hielt der Beschwerdeführer eine Rede, in der er behauptete, Stalin hätte in geheimen Berichten geschrieben, es habe keinen Völkermord durch Türken an den Armeniern gegeben. Die Armenier hätten auf Seiten der Imperialisten gekämpft; die Türken hätten sich verteidigt.  Es sei eine Schlacht gewesen, bei der es auf beiden Seiten zu Massakern gekommen wäre. Einen Völkermord durch die Türken an den Armeniern hätte es nicht gegeben.

Die Gesellschaft Armenien-Schweiz (Swiss Armenian Association), die sich für die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern einsetzt, erstattete Strafanzeige. Es kam zu einem Strafverfahren und der Beschwerdeführer wurde zu 29 Tagessätzen auf Bewährung, einer Geldstrafe von 3.000 Schweizer Franken und einer Entschädigungszahlung von 1.000 Schweizer Franken an die Gesellschaft Armenien-Schweiz verurteilt.

Grundlage der Verurteilung war ein Artikel des Schweizer Strafgesetzbuches, der Rassendiskriminierung unter Strafe stellt und wie folgt lautet:

261 bis Rassendiskriminierung

Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft,

wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind,

wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt,

wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,

wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion verweigert,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

 

Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen die Verurteilung ein. Letztlich bestätigte aber das Schweizer Bundesgericht in letzter Instanz die Verurteilung.

Daraufhin erhob er Menschenrechtsbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er stützte sich dabei auf die Meinungs- und Äusserungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK.

Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet zunächst eine sogenannte Kammer über einen Fall (wenn er nicht bereits vorher als unzulässig angesehen wird). Eine solche Kammer ist aus sieben Richtern zusammengesetzt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Fall aber an die sogenannte Grosse Kammer verwiesen werden. Diese besteht aus 17 Richtern. Sie ist sozusagen die zweite Instanz innerhalb des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. So geschah es im Fall Perincek gegen die Schweiz. Eine Kammer kam zu dem Schluss, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers in der Schweiz dessen Recht auf freie Meinungsäusserung verletzt hatte.

Die Schweiz beantragte die Verweisung an die Grosse Kammer, diesem Antrag wurde stattgegeben.

 

Rechtliche Beurteilung:

Aufgrund der Verweisung prüfte die Grosse Kammer des EGMR erneut, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers gegen sein Recht auf Meinungsfreiheit verstiess.

Das Recht auf Meinungs- und Äusserungsfreiheit, das Artikel 10 EMRK garantiert, ist nicht grenzenlos. Es darf beschränkt werden, um andere Rechte zu schützen. Beschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit sind aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: Die Beschränkung muss eine gesetzliche Grundlage haben und sie muss einem legitimen Ziel dienen.

Darüber setzt eine Beschränkung der Meinungsfreiheit gemäss Artikel 10 EMRK voraus, dass die Einschränkung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“. Das heisst es muss ein angemessenes Verhältnis zwischen der Beschränkung der Meinungsfreiheit und dem Zweck bestehen, dem sie dienen soll. Nur wenn die Beschränkung der Meinungsfreiheit gerechtfertigt ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, ist sie nach Artikel 10 EMRK zulässig. Es wird also eine umfassende Abwägung der Interessen, die auf dem Spiel stehen, vorgenommen.

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft, ob einen Beschränkung der Meinungs- und Äusserungsfreiheit gegen die EMRK verstösst, geht er diese Voraussetzungen Schritt für Schritt durch.

Zunächst setzte der Gerichtshof sich mit der Frage auseinander, ob es eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers gegeben hatte. Dieser war wegen Rassendiskriminierung verurteilt worden. Insofern gab es eine rechtliche Grundlage. Allerdings reicht es nach der Rechtsprechung des EGMR nicht aus, dass eine rechtliche Basis existiert, sondern diese muss ihrerseits bestimmten Anforderungen entsprechen. Vor allem muss hinreichend vorhersehbar sein, wie weit Beschränkungen der Meinungsfreiheit gehe, die auf Grundlage dieses Gesetzes vorgenommen werden.

Der Beschwerdeführer argumentierte, er habe nicht vorhersehen können, dass er aufgrund seiner Meinungsäusserung wegen Rassendiskriminierung verurteilt werden könnte. Der Völkermord in Armenien sei nie durch ein internationales Gericht festgestellt worden. Da es sich um einen komplizierten Tatbestand handele, hätte er nicht vorhersehen können, dass Schweizer Gericht das Geschehen als Völkermord qualifizieren würden.

Der Gerichtshof wies dieses Argument zurück. Er wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer selbst Jurist sei. Es sei für ihn abzusehen gewesen, dass die Geschehnisse des Jahres 1915 als Völkermord eingestuft werden könnten und dass deshalb die Leugnung des Völkermordes eine Bestrafung nach sich ziehen würde. Insofern sei eine hinreichend präzise gesetzliche Grundlage gegeben.

Der Gerichtshof befasste sich nun mit der Frage, ob dieses Gesetz einem legitimen Ziel gedient habe. Er wies darauf hin, dass die Verbrechen an der armenischen Bevölkerung für weite Teile der armenischen Gemeinschaft ein prägendes Ereignis sei, das für ihr Selbstverständnis und ihre Identität von grosser Bedeutung sei. Es müsse bedacht werden, dass der Beschwerdeführer nicht geleugnet haben, dass es zu den Morden an den Armeniern gekommen sei. Er habe die Ereignisse also nicht einfach vollständig geleugnet, sondern nur die Verantwortung für diese Ereignisse auf die „Imperialisten“ abgewälzt. Dennoch berühre auch diese Darstellung das Selbstverständnis vieler Armenier. Dieses zu schützen sei Ziel der Bestrafung des Beschwerdeführers gewesen. Insofern habe der Eingriff in die Meinungsfreiheit auch einen legitimen Ziel gedient.

Schliesslich wandte sich der Gerichtshof der Frage der Frage zu, ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Hierbei unterscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach dem Bereich, dem die Meinungsäusserung zuzurechnen ist. Politische Debatten sind für demokratische Gesellschaften überlebenswichtig. Äusserungen, die im Rahmen der Diskussion politischer Fragen fallen, sind deshalb besonders schutzwürdig. Dementsprechend ist die Schwelle für eine Beschränkung sehr hoch.

Andererseits sind beispielsweise Aussagen, die eher den Bereichen Klatsch oder Unterhaltung zuzuordnen sind, zwar ebenfalls durch Artikel 10 EMRK geschützt. Aber die Schwelle für Einschränkungen – beispielsweise um die Privatsphäre anderer zu sichern – liegt niedriger.

Der EGMR führte aus, dass der Beschwerdeführer zwar auf seine juristischen und historischen Kenntnisse verwiesen habe. Dennoch liege aber keine wissenschaftliche Äusserung vor. Vielmehr handele es sich bei den Stellungnahmen im Rahmen von Parteiveranstaltungen um politische Aussagen, die weitgehend geschützt seien. Daher sei der Eingriff in die Meinungsfreiheit, die in der Verurteilung liege, nicht zu rechtfertigen.

Nach Auffassung des Gerichtshofes war die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern durch den Beschwerdeführer anders zu beurteilen als die Leugnung des Holocaust. Die Leugnung des Holocaust ist in mehreren europäischen Ländern strafbar und der EGMR hat bereits bestätigt, dass dies im Einklang mit der EMRK steht. Allerdings besteht nach Auffassung des EGMR ein wesentlicher Unterschied: Die Leugnung des Holocaust, der eine unumstössliche historische Tatsache ist, ist per se antisemitisch. Sie ist erniedrigend für die Opfer und hat die Tendenz, den Weg für neue fremdenfeindliche Aktivitäten zu ebnen. Dagegen waren die Äusserungen des Beschwerdeführers über die Ereignisse von 1915 nicht von einer rassistischen Grundhaltung geprägt gewesen. Er hatte die Massaker nicht bestritten und die Opfer nicht erniedrigen wollen, sondern lediglich die Verantwortung anders eingeordnet. Dies begründete nach Auffassung des Gerichtshofes einen wesentlichen Unterschied.

Er stellte eine Verletzung von Artikel 10 EMRK fest.

Perincek gegen Schweiz, Urteil der Grossen Kammer vom 15.10.2015, Beschwerde Nr. 27510/08

Allgemein Artikel 10 EMRK, Äusserungsfreiheit, Schweiz, Völkermord an Armeniern

Rechtsanwalt Holger Hembach