Gestern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil im Fall Mitkova gegen Mazedonien verkündet. Der Fall ist ein Routinefall, der keine rechtlichen oder tatsächlichen Besonderheiten mit sich bringt. Gerade deshalb wirft er aber ein Schlaglicht auf das mazedonische Justizsystem und die Probleme, mit denen es zu kämpfen hat.
Sachverhalt
Die Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war von einer mazedonischen Bürgerin eingelegt worden, die 1994 zur Behandlung ihrer multiplen Sklerose in die USA gegangen war. Vor ihrer Abreise hatten drei Ärzte ihr ein ärztliches Attest ausgestellt, das bestätigte, dass ihre Krankheit in Mazedonien nicht weiter behandelt werden konnte. Dieses Attest bestätigte auch, dass sie möglichst sofort reisen sollte.
Nach ihrer Rückkehr aus den USA liess sich die Beschwerdeführerin ein weiteres Attest ausstellen, das bestätigte, dass eine Behandlung in Mazedonien nicht mehr möglich sei.
Kurz darauf beantragte sie eine nachträgliche Überweisung an die Klinik in den USA bei der staatlichen Gesundheitsversicherung. Eine Übernahme der Behandlungskosten beantragte sie nicht. Die nachträgliche Verweisung wurde abgelehnt, weil ein Gutachten ergab, dass eine Behandlung auch in Mazedonien möglich gewesen wäre. Die Beschwerdeführerin erhob Klage. Parallel beantragte sie auch die Übernahme der Kosten für die Behandlung in den USA. Diese wurde ihre zeitweilig zugesprochen.
Es folgte eine lange Serie von Prozessen. Der Oberste Gerichthof hob Entscheidungen der staatlichen Versicherung und des Ministeriums mehrfach auf, die dann wiederum die gleichen Entscheidungen erliessen.
In der Zwischenzeit wurde in Mazedonien ein Verwaltungsgericht eingeführt. Dieses war auch für den Fall der Beschwerdeführerin zuständig. Die Beschwerdeführerin brache ihren Fall zum Verwaltungsgericht. Zur massgeblichen Zeit sah das Gesetz vor, dass das Verwaltungsgericht grundsätzlich in nichtöffentlicher Sitzung ohne mündliche Verhandlung entschied. Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte stattfinden, wenn der Fall komplex war oder wenn Tatsachenfragen zu klären waren. In diesen Fällen konnte auch der Kläger einen öffentliche mündliche Verhandlung beantragen.
Die Beschwerdeführerin beantragte eine mündliche Verhandlung. Das Verwaltungsgericht entschied jedoch ohne mündliche Verhandlung. Es gab keine Begründung, warum es keine Verhandlung durchgeführt hatte.
Das Urteil wurde der Beschwerdeführerin im September 2009 zugestellt. Sie legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Rechtliche Beurteilung
Die Beschwerdeführerin stützte die Beschwerde auf zwei Aspekte des Rechtes auf ein faires Verfahren, das in Artikel 6 EMRK verankert ist. Dieser garantiert unter anderem das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit.
In vielen Fällen ist es nicht einfach zu beurteilen, welche Zeit für einen Prozess angemessen ist. Denn es gibt keine festgelegten Fristen für Verfahrens nach der Art: Ein Strafverfahren darf pro Instanz nicht mehr als zwei Jahre dauern. Vielmehr prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jeweils im Einzelfall, welche Dauer für ein bestimmtes Verfahren angemessen war. Dabei orientiert er sich vor allem an der Komplexität des Falles, am Verhalten des Staates bzw. der Gerichte, am Verhalten des Beschwerdeführers selbst und an der Bedeutung der Sache. Das kann zu schwierigen Abwägungen führen.
Im diesem Falle allerdings nicht: Das Verfahren hatte über 13 Jahre gedauert. Es war offensichtlich, dass dieser Zeitraum zu lang war, und auch Mazedonien als der Staat, gegen den sich die Beschwerde richtete, räumte dies ein. Überlange Verfahren sind ein häufiges Problem in Mazedonien. Sie haben schon zu zahlreichen Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt. Obwohl Mazedonien schon seit Jahren versucht, sein Justizsystem zu reformieren, ist es bislang nicht gelungen, den Weg für zügige Verfahren und effektiven Rechtsschutz zu ebnen.
Darüber hinaus machte die Beschwerdeführerin auch einen Verstoss gegen ihr Recht auf eine mündliche Verhandlung geltend. Auch dieses ergibt sich aus Artikel 6 EMRK. Allerdings hatte das mazedonische Recht, das seinerzeit in Kraft war, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Regelfalle auch nicht vorgesehen. Die mazedonische Regierung argumentierte, eine mündliche Verhandlung sei nicht nötig gewesen. Das Verfahren habe lediglich Rechtsfragen betroffen; zu diesen hätten beide Seiten ausführlich Stellung genommen und das Verwaltungsgericht habe den Fall auf dieser Grundlage entscheiden können.
Diese Argumente überzeugten den EGMR nicht. Der Gerichtshof führte aus, dass nach seiner Rechtsprechung der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung nur in Ausnahmefällen in Betracht komme. Es habe aber kein Ausnahmefall vorgelegen. Auch seien sehr wohl noch Tatsache in Streit gewesen. Die Gerichte hätten in ihren vorherigen Urteilen in dem Fall mehrfach darauf hingewiesen, dass die Atteste widersprüchlich seien. Einige Sachverständige hätten ausgeführt, eine Behandlung der Beschwerdeführerin sei in Mazedonien nicht mehr möglich gewesen, andere Experten hätten die gegenteilige Auffassung vertreten. Insofern seien noch Tatsachenfragen zu klären gewesen.
Schliesslich wies der Gerichthof darauf hin, dass die Beschwerdeführerin ausdrücklich eine mündliche Verhandlung beantragt hätte. Das Verwaltungsgericht hatte diesen Antrag aber einfach ignoriert. Insofern läge auch auch Verstoss gegen das Recht auf eine mündliche Verhandlung vor.
Auch dies zeigt typische Probleme der mazedonischen Justiz: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit war gerade im Zug der Reformbemühungen neu eingeführt worden. Trotzdem war das entsprechende Gesetz offenbar nicht völlig im Einklang mit europäischen Standards. Derartige Beispiele für überhastete und nicht ausreichend durchdachte Reformen gibt es viele.
Mitkova gegen Mazedonien, Urteil vom 15.10.2015, Beschwerde Nr. 48386/09