Im Fall N.P. gegen Republik Moldau hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Entzug des elterlichen Sorgerechts auseinandergesetzt. Dabei hat der Gerichtshof erneut darauf hingewiesen, dass sich aus dem Schutz des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK besondere Anforderungen an die Entscheidung ergeben, den Eltern (oder einem Elternteil) das Sorgerecht zu entziehen.
Sacherhalt:
Im September 2011 erhielt die Polizei in Chisinau, Moldau, einen Telefonanruf von einem örtlichen Ladenbesitzer. Er teilte mit, die Beschwerdeführerin vernachlässige ihr Kind und sei regelmässig betrunken. Polizeibeamte trafen die Beschwerdeführerin und deren Mutter schwer betrunken an. Sie brachten daraufhin die vierjährige Tochter der Beschwerdeführerin in ein Krankenhaus.
Die Polizei berichtete dem zuständigen Kinderschutzdienst, die Beschwerdeführerin und ihre Mutter seien betrunken gewesen. Beide seien ungepflegt und aggressiv gewesen. Die Tochter der Beschwerdeführerin sei ungepflegt erschienen und hätte angegeben, den ganzen Tag nichts gegessen zu haben. Nachbarn seien befragt worden und hätten angegeben, das Kind bettele regelmässig in der Nachbarschaft um Essen und sei eine Woche lang unbeaufsichtigt gewesen.
Am folgenden Tag suchten ein Sozialarbeiter und ein Psychologe die Wohnung der Beschwerdeführerin auf. Sie stellen fest, dass die Wohnung nicht aufgeräumt war und dass es kein fliessendes Wasser und kein Gas gab.
Die Beschwerdeführerin wurde von einem Polizisten befragt. Dieser kam zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin ihre Tochter vernachlässige. Sie sei ihrer Tochter gegenüber gewalttätig; ausserdem komme regelmässig zur physischen Auseinandersetzungen zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Mutter. Die Beschwerdeführerin wurde zu einem Gespräch mit dem Kinderschutzdienst eingeladen. Angeblich erschien sie zu dem Gespräch betrunken. Sie selbst bestritt später, betrunken gewesen zu sein.
Bei der Tochter der Beschwerdeführerin wurden psycho-soziale Vernachlässigung, leicht unterentwickelte feinmotorische Fähigkeiten und eine Verlangsamung des Denkvermögens festgestellt.
Die Tochter der Beschwerdeführerin wurde in ein Waisenhaus gebracht. Der Kinderschutzdienst brachte ein Verfahren zur Entziehung des elterlichen Sorgerechtes für die Mutter in Gang.
Die Beschwerdeführerin widersprach vor Gericht der Entziehung der elterlichen Sorge. Sie gab an, der Tag im September, an dem die Polizei ihre Tochter ins Krankenhaus gebracht habe, sei nicht typisch gewesen. Sie sei zu dieser Zeit durch eine schwierige Phase gegangen. Sie sei alleinerziehende Mutter und erhalte keinerlei Unterstützung. Deshalb habe sie nur sehr wenig Geld, deshalb seien die Lebensbedingungen schwierig. Sie sorge aber für ihre Tochter, habe sie regelmässig zu medizinischen Untersuchungen gebracht und schenke ihr Spielsachen und Süssigkeiten. Sie habe versucht, ihre Tochter zu besuchen, während diese im Waisenhaus gewesen sei. Die Beschwerdeführerin legte bei Gericht schriftliche Stellungnahmen von 15 Nachbarn vor, die bezeugten, dass die Beschwerdeführerin sich um ihre Tochter kümmere.
Das erstinstanzliche Gericht entzog der Beschwerdeführerin das elterliche Sorgerecht. Es stützte sich dabei im wesentlichen auf den Bericht des Kinderschutzdienstes.
Die Beschwerdeführerin legte Rechtsmittel ein. Sich machte geltend, dass sie in der Zwischenzeit einer regelmässigen Arbeit nachgehe. Ihre Lebensbedingungen hätten sich verbessert.
Das Gericht wies das Rechtsmittel zurück, ohne sich im einzelnen mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen. Es schloss sich im wesentlichen der Argumentation der ersten Instanz an. Ein weiteres Rechtsmittel der Beschwerdeführerin blieb ohne Erfolg und sie legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Rechtliche Beurteilung
Die Beschwerdeführerin stützte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf den Schutz des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK, der lautet:
(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin stellte die Entziehung des Sorgerechtes einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht auf Familienleben dar.
Dass die Entziehung des Sorgerechtes in das Recht auf Familienleben eingreift, steht ausser Frage. Was vor dem Gerichtshof diskutiert wurde, war, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Artikel 8 EMRK sieht vor, dass in das Recht auf Familienleben eingegriffen werden darf, sofern der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Hierfür hat der EGMR bestimmte Kriterien entwickelt. Bei Entziehung der elterlichen Sorge stellt der Gerichtshof zunächst darauf ab, ob aussergewöhnliche Umstände es rechtfertigen, das Kind aus dem Familienverband (oder aus der Bindung zu einem Elternteil) herauszuziehen. Das Gericht geht im Ansatz davon aus, dass Kinder in der Familie am besten aufgehoben sind. Um eine Entziehung der elterlichen Sorge zu rechtfertigen, reicht es nicht aus, dass es den Kindern woanders besser gehen würde. Die Entziehung ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn die Gesundheit oder Entwicklung des Kindes in der derzeitigen Familie geschädigt werden könnten.
Zweitens berücksichtigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prozessuale Erwägungen. Der Gerichtshof ist erst dann mit Fällen befasst, wenn das Verfahren auf nationaler Ebene bereits abgeschlossen ist. Der Gerichtshof prüft hier, ob das Verfahren ordnungsgemäss war und ob die nationalen Gerichte bei ihrer Entscheidung alle Argumente in Betracht gezogen haben.
Der EGMR stiess sich vor allem an dem Verfahren. Er führte aus, dass die Vernachlässigung durch die Mutter prinzipiell die Entziehung des Sorgerechtes rechtfertigen konnte. Allerdings waren nach Auffassung des Gerichtshofes die moldauischen Gerichte nicht gründlich genug bei der Erhebung der Beweise gewesen. Die moldauischen Gerichte hatten sich fast ausschliesslich auf die Darstellung des Kinderschutzdienstes verlassen. Dabei hatten sie aber Beweise, die die Beschwerdeführerin beigebracht hatte, ignoriert. Beispielsweise hatte die Beschwerdeführerin 15 Stellungnahmen von Nachbarn beigebracht, die bezeugen wollten, dass ihre Tochter nicht vernachlässigt war und nicht in der Nachbarschaft nach Essen bettelte. Dem waren die moldauischen Gerichte nicht nachgegangen.
Ausserdem hatte die Beschwerdeführerin schon im Verfahren in Moldau vorgebracht, ihre Situation habe ich inzwischen verbessert. Auch damit hatten sich die moldauischen Gerichte nicht auseinandergesetzt. Schliesslich hatten die moldauischen Gerichte sich nicht bemüht, auch nur in Erfahrung zu bringen, welche staatliche Hilfestellung der Beschwerdeführerin angeboten worden war, um mit ihrer Situation besser fertig zu werden und hinreichende Lebensbedingungen für ihre Tochter zu schaffen.
Nach alldem war das Verfahren, in dem über die Entziehung der elterlichen Sorge entschieden worden war, nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte mangelhaft. Der Gerichtshof stellte daher eine Verletzung des Rechtes auf Familienleben nach Artikel 8 EMRK fest. Er sprach der Beschwerdeführerin Schadensersatz für immaterielle Verluste in Höhe von 7.500 Euro zu.
N.P. gegen Moldau, Urteil vom 6.10.2015, Beschwerde Nr. 58455/13