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Rechtsanwalt Holger Hembach

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Polizeigewalt und das Verbot erniedrigender Behandlung nach Artikel 3 EMRK – Bouyid gegen Belgien

Holger Hembach · 1. Oktober 2015 ·

 

Der Fall Bouyid gegen Belgien belegt erneut, dass das Verbot von Folter und erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung auch in westlichen Demokratien noch praktische Bedeutung hat. Darüber hinaus macht das Urteil deutlich, wie weitreichend inzwischen die Kontrolle ist, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die Justiz der Mitgliedsstaaten ausübt.

Der Fall betraf Vorfälle, bei denen Polizisten die Beschwerdeführer angeblich geohrfeigt hatten. Die Polizisten bestritten das.

 

Sachverhalt

Die beiden Beschwerdeführer waren Brüder. Sie gehörten einer Familie an, die schon seit längerer Zeit in einem angespannten Verhältnis zur örtlichen Polizei lebte. Der Ausgangspunkt der Spannungen war dabei, dass vor einigen Jahren ein Polizist ein Familienmitglied verdächtigt hatte, sein Auto zerkratzt zu haben. Die Familie behauptete, seitdem gezielt mit unbegründeten Ermittlungsverfahren überzogen worden zu sein. Angehörige der örtlichen Polizei gaben dagegen an, dass Mitglieder der Familie Bouyid sie bedrohten und beleidigten.

Im Dezember 2003 wurde der erste Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten in Zivil aufgefordert, sich auszuweisen als er vor seiner Haustüre stand. Der Beschwerdeführer weigerte sich und wurde zur Polizeiwache gebracht. Er behauptete, der Polizist habe ihn auf der Wache geohrfeigt.

Nachdem seine Identität festgestellt worden war, wurde der Beschwerdeführer entlassen. Er ging zum einem Allgemeinarzt, der eine Hautrötung in Gesicht feststellte und schriftlich festhielt, der Beschwerdeführer habe unter Schock gestanden. Der Polizeibeamte erstattete Anzeige wegen Widerstands und Beleidigung gegen den Beschwerdeführer.

Im Februar 2004 wurde der andere Beschwerdeführer nach einem Nachbarschaftsstreit kurzzeitig festgenommen. Er behauptete, der Polizist, der ihn verhört hätte, hätte ihn geohrfeigt. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam sucht er einen Arzt auf. Dieser stelle eine Prellung an der Wange des Beschwerdeführers fest. Der Polizeibeamte, der ihn verhört hatte, gab ein, der Beschwerdeführer sei extrem unhöflich gewesen. Er habe sich auf seinen Schreibtisch gelehnt, sich im Stuhl hingelümmelt und Fragen nur sehr kurz beantwortet. Der Beamte gab an, er habe den Beschwerdeführer am Arm gefasst und von seinem Schreibtisch fortgezogen; er bestritt aber, ihn geschlagen zu haben.

Die Beschwerdeführer legten zunächst Beschwerde bei einer internen Kommission der Polizei ein, die zur Untersuchung von Fehlverhalten von Polizeibeamten zuständig war. Diese befragte die Polizisten. Beide bestritten, die Beschwerdeführer geohrfeigt zu haben.

Die Beschwerdeführer erstatteten Strafanzeige. Der zuständige Untersuchungsrichter leitete eine Untersuchung ein. Er informierte zog die Protokolle der Befragung der Polizisten bei und liess die Polizeibeamten einen Bericht erstatten. Letztlich wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt, weil aus Sicht der zuständigen Behörden kein Fehlverhalten der Polizisten nachweisbar war.  Die Beschwerdeführer legten Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

 

Rechtliche Bewertung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte den Sachverhalt im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Artikel 3 der EMRK, der Folter und erniedrigende und unmenschliche Behandlung verbietet.

Dieser lautet wie folgt:

Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes hat Artikel 3 zwei Aspekte. Er verbietet Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben, zu foltern oder Menschen erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Darüber hinaus erlegt er Staaten eine Pflicht auf, effektive Ermittlungen durchzuführen, wenn Gründe für die Annahme sprechen, dass gegen das Folterverbot verstossen worden ist.

Der EGMR prüfte in diesem Fall beide Aspekte. Im Bezug auf das Folterverbot geht der Gerichtshof davon aus, dass ein Verstoss nachgewiesen werden muss. Es reicht nicht aus, dass der Gerichtshof es für wahrscheinlich hält, dass der Beschwerdeführer gefoltert oder misshandelt wurde. Vielmehr muss der Gerichtshof soweit überzeugt sein, dass keine vernünftigen Zweifel mehr bestehen.

Allerdings kehrt sich die Beweislast um, wenn der Beschwerdeführer nachweisen kann, dass er Verletzungen erlitten hat, während er im Gewahrsam des Staates war. Hat der Beschwerdeführer sich Verletzungen zugezogen, während er unter staatlicher Kontrolle war, muss der Staat beweisen, dass keine Folter vorgelegen hat; er muss plausibel erklären, wie es zu diesen Verletzungen kommen konnte.

Beide Beschwerdeführer hatten nach ihrem Aufenthalt im Polizeigewahrsam Rötungen oder Prellungen im Gesicht. Der belgische Staat konnte nicht plausibel erklären, wie es zu dieser Verletzung kommen konnte. Der Gerichtshof hielt die Behauptung, die Beschwerdeführer hätten sich selbst verletzt, um die Polizeibeamten in Schwierigkeiten zu bringen, für nicht glaubhaft. Daher ging er davon aus, dass die Beschwerdeführer tatsächlich geohrfeigt worden waren.

Allerdings blieb die Frage, ob eine Ohrfeige tatsächlich als erniedrigende Behandlung angesehen werden kann. Mit anderen Worten: Ist eine Ohrfeige durch einen Polizeibeamten wirklich so gravierend, dass ein Staat sich dafür vor einem internationalen Gericht verantworten müssen sollte? Der EGMR hatte vorher bereits mehrfach entschieden, dass eine bestimmte Schwelle überschritten sein muss, damit ein Verhalten als erniedrigend qualifiziert werden kann. Die Handlung, um die es geht, muss einen bestimmten Grad an Schwere aufweisen. Daran hielt der Gerichtshof auch fest. Allerdings kam die Mehrheit der Richter zum dem Schluss, dass diese Voraussetzung erfüllt war. Eine Ohrfeige beeinträchtige die Würde des Geschlagenen in besonderer Weise. Auch sei zu berücksichtigen, dass einer der Beschwerdeführer erst 17 Jahre alte gewesen sei; in diesen Alter sei man noch in der Entwicklung und daher für Angriffe auf die eigene Würde besonders sensibel.  Daher sei hier die Schwelle des erniedrigenden Verhaltens erreicht. Der Gerichtshof stellte daher eine Verletzung von Artikel 3 EMRK fest.

Allerdings gibt es zu dem Urteil auch eine abweichende Meinung von drei Richtern. Diese bestreiten natürlich ebenfalls nicht, dass die Schläge durch die Polizeibeamten widerrechtlich waren und gegen ethische Grundsätze verstiessen und vor belgischen Gerichten hätten geahndet werden sollen. Sie sind aber der Meinung, dass der Verstoss nicht so gravierend war, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der EMRK feststellen sollte. Das Verhalten war nach Meinung dieser Rechter zwar rechtswidrig – aber keine Verletzung fundamentaler Menschenrechte.

 

Auch mit dem prozessualen Aspekt von Artikel 3 setzte der Gerichtshof sich auseinander. Er führte aus, dass der belgische Staat verpflichtet war, eine effektive Ermittlung durchzuführen. Dieser Pflicht hatte Belgien jedoch aus Sicht des Gerichtshofes nicht genügt. Der Ermittlungsrichter hätte sich nicht darauf beschränken dürfen, die Akten der internen Untersuchungskommission der Polizei beizuziehen.  Ausserdem seien die Ärzte, die die Atteste für die Beschwerdeführer ausgestellt hätten, nicht befragt worden. Auch insofern sei Artikel 3 EMRK verletzt.

Bouyid gegen Belgien, Urteil vom 28.09.2015, Beschwerde Nr. 23380/09

 

 

 

Allgemein Artikel 3 EMRK, Folterverbot, Polizeigewalt, Verbot erniedrigender Behandlung

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