Seit den Enthüllungen Edward Snowdens wird die Rolle von Geheimdiensten in demokratischen Gesellschaften wieder lebhaft diskutiert. Dabei ist auch zutage getreten, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) in erheblichem Umfang Daten mit der amerikanischen Sicherheitsagentur (National Security Agency) NSA austauscht. Es ist nicht vollständig klar, auf welcher rechtlichen Grundlage die Weitergabe von Daten durch den BND beruht, welchen Grenzen sie unterliegt und wie ihr Umfang kontrolliert wird.
Eine Klärung der Prinzipien, die auf den Austausch von Daten zwischen Geheimdiensten gelten, könnte eine Beschwerde bringen, die derzeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängig ist: Die Beschwerdeführer – darunter die britische Menschenrechtsorganisation Big Brother Watch, der Schriftstellerverband PEN und die Informatikerin Constanze Kurz machen geltend, es verstosse gegen ihre Rechte nach Artikel 8 EMRK, dass der britische Geheimdienst Daten von der NSA anfordere, entgegennehme und speichere. Der EGMR hat die britische Regierung über die Beschwerde informiert und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Das Verfahren vor dem Investigatory Powers Tribunal
Auf nationaler Ebene hat sich vor kurzem das „Investigatory Powers Tribunal“ mit der Rechtmässigkeit des Austauschs von Daten zwischen britischen und amerikanischen Geheimdiensten befasst. Das „Investigatory Powers Tribunal“ ist ein besonderes Gericht, das für die Überwachung der britischen Geheimdienste zuständig ist. Es wurde auf Grundlage des Investigatory Powers Act eingerichtet, der Überwachungsbefugnisse der britischen Geheimdienste regelt.
Bürger, die glauben, dass Geheimdienste ihre Befugnisse überschreiten, können unter bestimmten Voraussetzungen eine Prüfung durch das Tribunal beantragen. Das Investigatory Powers Tribunal kann über die Beschwerde oder den Antrag in öffentlicher oder nicht-öffentlicher Verhandlung entscheiden – abhängig davon, ob es der Auffassung ist, dass durch eine öffentliche Verhandlung nationale Sicherheitsinteressen beeinträchtigt werden könnten.
Verschiedene Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wie Amnesty International, Liberty und Privacy International hatten geltend gemacht, die Anforderung und Entgegennahme von Daten durch britische Geheimdienste sei rechtswidrig.
Das Tribunal verhandelte fünf Tage lang über den Fall. An vier Verhandlungstagen war die Öffentlichkeit zugelassen; am fünften Tag hörte das Investigatory Powers Tribunal unter Ausschluss der Öffentlichkeit Argumente der Anwälte des Staates, die als zu sensibel eingestuft wurden, um sie in öffentlicher Verhandlung zu erörtern. Nach der Verhandlung traf das Tribunal eine Entscheidung, gab den Parteien aber Gelegenheit, noch zu einer bestimmten Frage Stellung zu nehmen. Nach Eingang dieser Stellungnahmen traf das Tribunal seine abschliessende Entscheidung.
Eingriff in das Recht auf Privatleben
Inhaltlich prüfte das Tribunal die Entgegennahme und Speicherung von Informationen vor allem in Hinblick auf Artikel 8 EMRK (Recht auf Respekt vor dem Privatleben) und Artikel 10 EMRK (Meinungs- und Informationsfreiheit). Da alle Verfahrensbeteiligten darin übereinstimmten, dass die wesentlichen Rechtsfragen für Artikel 8 und 10 EMRK die gleich waren, beschränkte das Tribunal sich weitgehend auf eine Erörterung des Datenaustauschs im Hinblick auf das Recht auf Privatleben (Nur ein besonderer Aspekt von Artikel 10 wurde gesondert diskutiert, wirkte sich aber nicht auf das Gesamtergebnis aus)
Das Investigatory Powers Tribunal folgte dem gleichen Schema, wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei Fällen anwendet, die Artikel 8 EMRK betreffen. Es erörterte zunächst, ob überhaupt ein Eingriff in das Recht auf Privatleben vorlag; da es diese Frage bejahte, prüfte es, ob der Eingriff nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK gerechtfertigt war.
Das Tribunal führte aus, dass ein Eingriff in das Recht auf Privatleben nicht nur vorliege, wenn Geheimdienste Telefongespräche selbst abhörten oder selbst Daten über Gesprächsteilnehmer feststellten. Auch das blosse Anfordern solcher Daten bzw. ihre Speicherung oder Verarbeitung stelle einen Eingriff dar.
Daran ändere es nach Auffassung des Tribunals auch nichts, dass es sich lediglich um sogenannte „Metadaten“ gehandelt habe – also Informationen über gewählte Verbindungen, Gesprächsdauer, Häufigkeit usw. Auch solche Daten seien durch das Recht auf Privatleben geschützt und ihre Speicherung stelle einen Eingriff in dieses Recht dar. Dabei verwies das Tribunal auch auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Metadaten.
Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf Privatleben
Ein Eingriff in das Recht auf Privatleben ist nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK gerechtfertigt, wenn er
- eine gesetzliche Grundlage hat
- einem legitimen Ziel dient
- und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist
Für das Abhören von Telefonen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Reihe von Entscheidungen detailliert dargelegt, wie diese Kriterien zu verstehen sind (siehe dazu auch hier). Unter anderem hat er ausgeführt, dass dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage nicht schon dann genüge getan ist, wenn ein Gesetz existiere, das die Überwachung legitimiere. Vielmehr müsse das Gesetz auch bestimmten inhaltlichen Anforderungen genügen.
Telefonüberwachung findet im Wesentlichen in zwei Formen statt: Einerseits in Form der individuellen Überwachung der Telefone bestimmter Personen oder bestimmter Telefonanschlüsse; andererseits in Form der sogenannten strategischen Überwachung. Im Rahmen der strategischen Überwachung werden eine grosse Menge von Telefongesprächen auf bestimmte Kriterien hin (beispielsweise Stichworte, die im Gespräche vorkommen) hin überprüft. Die Gespräche die diesen Kriterien entsprechen werden gespeichert und näher analysiert. Der EGMR hat sich mit beiden Formen der Überwachung befasst und Kriterien formuliert, denen das Gesetz entsprechen muss, das die Überwachung rechtfertigt. Bei den Daten, um die es in dem Verfahren vor dem Investigatory Powers Tribunal ging, handelte es sich um die Früchte strategischer Überwachung. Das orientierte sich daher vor allem an der Entscheidung Weber und Saravia g. BR Deutschland, die die strategische Überwachung durch deutsche Geheimdienste zum Gegenstand hat. Danach muss klar geregelt sein
- welche Personen/Telefonanschlüsse von der Überwachung betroffen sein können
- aufgrund welcher Tatsachen eine Überwachung angeordnet werden kann
- wie lange die Überwachung andauern kann
- wann Daten gelöscht werden dürfen/müssen
- zu welchen Zwecken und an wen die Daten weitergegeben werden müssen
Allerdings war das Tribunal der Auffassung, dass diese Kriterien auf den Austausch von Daten zwischen Geheimdiensten nicht streng angewandt werden müssten. Zum einen sei die Speicherung von sogenannten Metadaten ein wesentlich schwächerer Eingriff in das Privatleben als das Abhören von Telefongesprächen, bei dem auch der Inhalt des Gesprächs aufgezeichnet oder zur Kenntnis genommen werde. Zum anderen müsse auch berücksichtigt werden, dass die britischen Geheimdienste die Daten leglich entgegennähmen und speicherten. Der eigentliche Eingriff – das „Abfangen“ von Gespräche und die Aufzeichnung der Daten – werde von amerikanischen Diensten vorgenommen. Da der Eingriff geringfügiger sei, müssten auch die Sicherungsmechanismen weniger stark ausgeprägt sein. Dabei stützte sich das Tribunal auch auf die Entscheidung im Fall Uzun g. BR Deutschland. In diesem Fall hat der EGMR entschieden, dass es zwar einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellt, wenn Behörden einen GPS-Tracker am Auto eines Verdächtigen anbringen, um seine Bewegungen nachverfolgen zu können. Dieser Eingriff sei jedoch nicht ebenso schwerwiegend wie das Abhören eines Telefons und müsse daher auch nicht den gleichen Anforderungen an seine Rechtfertigung genügen.
Die Vertreter des Staates erläuterten – zum grossen Teil in öffentlicher Verhandlung – welche Regeln innerhalb der britischen Geheimdienste für die Anforderung von Informationen von ausländischen Diensten aufgestellt wurden und wie deren Einhaltung überprüft wird. Das Tribunal prüfte diese Regeln im Hinblick auf die Kriterien, die der EGMR im Falle Weber aufgestellt hatte. Es kam zu dem Schluss, dass den (abgeschwächten) Kriterien genüge getan sei.
Allerdings ist die Erfüllung dieser Kriterien nicht die einzige Anforderung an die Rechtfertigung eines Eingriffes in das Recht auf Privatleben. Der EGMR hat auch darauf hingewiesen, dass es für den Bürger im Allgemeinen vorhersehbar sein müsse, unter welchen Umständen in sein Recht auf Privatleben eingegriffen werden könne. Dazu gehöre es auch, dass die wesentlichen Regeln hierfür öffentlich zugänglich seien. In einem früheren Fall gegen Grossbritannien hatte der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 EMRK festgestellt, weil wichtige Regeln für die Anordnung von Telefonüberwachungen nicht öffentlich zugänglich gewesen waren.
Das Investigatory Powers Tribunal liess diese Frage zunächst offen. Nach den fünf Tagen öffentlicher Verhandlung gab es den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, schriftlich dazu Stellung zu nehmen, ob den Anforderungen an die Öffentlichkeit der Regeln genüge getan sei.
Es kam zu dem Ergebnis, dass dies ursprünglich nicht der Fall gewesen war. Allerdings seine die Regeln für den Informationsaustausch zwischen Geheimdiensten in der öffentlich mündlichen Verhandlung ausführlich diskutierte worden. Dadurch seien sie öffentlich zugänglich geworden, so dass der Mangel gewissermassen geheilt worden sei. Das Tribunal kam daher zu dem Schluss, dass bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Investigatory Powers Tribunal ein Verstoss gegen Artikel 8 EMRK vorgelegen habe. Seit der mündlichen Verhandlung liege aber keine Verletzung des Rechtes auf Privatleben mehr vor.