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The Business of Human Rights

Rechtsanwalt Holger Hembach

Beschwerde beim EGMR - Individualbeschwerden

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Klares gesetzliches Regelwerk für Hilfe zur Selbsttötung – Gross gegen Schweiz

Holger Hembach · 10. Juni 2013 ·

Im Fall Gross g. Schweiz hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erneut mit einer Beschwerde auseinandergesetzt, die ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten wollte.
Die Frage, ob das Recht auf Privatleben auch ein Recht des Individuums umfasst, das eigene Leben zu beenden, ist dem EGMR schon in früheren Fällen vorgelegt worden. In Pretty g. Vereinigtes Königreich war die Beschwerdeführerin eine Frau, die an einer tödlichen Krankheit litt. In ihrem Endstadium führt diese Krankheit zu einer Lähmung der Muskeln des Atemsystems, so dass der Patient an Erstickung stirbt. Die Beschwerdeführerin sah dies als einen qualvollen und würdelosen Tod an und wollte sie ihrem Leben vorher ein Ende setzen. Da sie selbst physisch bereits nicht mehr in der Lage war, dies zu tun, versuchte sie von der Staatsanwaltschaft eine Zusicherung zu erlangen, dass ihr Ehemann nicht strafrechtlich belangt werden würde, wenn er sie bei ihrer Selbsttötung unterstütze. Die Staatsanwaltschaft weigerte sich, die gewünschte Erklärung abzugeben.
Die Beschwerdeführerin wandte sich an den EGMR. Sie machte geltend, dass das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK das Recht beinhalte, das eigene Leben zu beenden und dass die Weigerung der britischen Behörden, die gewollte Erklärung abzugeben, eine Verletzung dieses Rechtes darstelle. Der Gerichtshof führte aus, dass Autonomie das Konzept sei, das Artikel 8 EMRK zugrunde liege. Er wollte nicht ausschliessen, dass die britische Gesetzeslage es der Antragstellerin unmöglich machte, ihr Leben zu beenden, einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellte. Der EGMR befand allerdings, dass dieser Eingriff nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK gerechtfertigt war. Er führte aus, dass die britischen Gesetze, die Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen, die Interessen besonders verletzlicher oder schwacher Menschen schützen sollten, was notwendig sei, um das herausragend wichtige Recht auf Leben zu schützen. Aufgrund dieser Überlegungen gelangte der Gerichtshof zu der Auffassung, dass das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK nicht verletzt sei.
 
In Haas gegen die Schweiz stellte der Gerichtshof ebenfalls keine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Der Beschwerdeführer litt seit über 20 Jahren an einer psychiatrischen Erkrankung. Er wollte seinem Leben ein Ende setzen. Zu diesem Zweck versuchte er, sich eine Dosis Pentobarbital zu verschaffen, die einen sicheren Tod ohne Schmerzen herbeiführen würde. In der Schweiz ist diese Substanz (im Einklang mit internationalen vertraglichen Verpflichtungen der Schweiz) nur auf Rezept erhältlich. Der Beschwerdeführer war nicht in der Lage gewesen, das notwendige Rezept zu beschaffen und argumentierte, dass die Bestimmungen, die ihn daran hinderten, Sodium Pentobarbital zu beschaffen, sein Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletzten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterschied diesen Fall vom eben erwähnten Fall Pretty g. Vereinigtes Königreich. Er führte aus, dass der Antragsteller – anders als im Fall Pretty – nicht unter einer tödlichen Krankheit litt. Ein weiterer Unterschied sei, dass der Antragsteller keine Hilfe zur Selbsttötung unter Zusicherung von Straffreiheit begehrte. Vielmehr behauptete er, dass die Schweiz nach der EMRK verpflichtet sei, ihm eine tödliche Dosis der gewünschten Substanz zur Verfügung zu stellen. Der Gerichtshof wies dieses Argument zurück. Er verwies auf die internationale Verpflichtung der Schweiz, Sodium Pentobarbital nur gegen Rezept verfügbar zu machen.

 

 

Ausserdem wies der EGMR darauf hin, dass es unter den Europäischen Staaten keinen Konsens dahingehend gebe, dass Staaten verpflichtet seien, Selbsttötungen möglich zu machen. Im Hinblick auf den Beurteilungsspielraum, den die Vertragsstaaten bei der Umsetzung der Konvention geniessen, sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Artikel 8 EMRK als nicht verletzt an.

 
Der Fall Gross g. Schweiz betraf ein ähnliches Begehren. Die Antragstellerin wurde 1931 geboren. Sie litt nicht an einer tödlichen Krankheit, aber ihr  Gesundheitszustand hatte sich im Lauf der Jahre immer weiter verschlechtert und sie war sehr geschwächt. Sie war nicht in der Lage zu längeren Spaziergängen und jede Veränderung ihrer Umwelt ängstigte sie. Da sie ihr Leben als zunehmend monoton und leidvoll empfand, hatte sie einen starken Todeswunsch entwickelt. Nach einem Selbsttötungsversuch war sie psychiatrisch behandelt worden, was jedoch nichts an ihrem Wunsch geändert hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ein Psychiater hatte bestätigt, dass ihre Urteilsfähigkeit trotz ihres körperlich angegriffenen Zustandes nicht eingeschränkt war.
Sie wandte sich schriftlich an verschiedene Ärzte und versuchte, eine tödliche Dosis Sodium Pentobarbital zu erhalten. Die Ärzte hatten dies jedoch aus Angst vor Strafverfolgung und aus ethischen Gründen abgelehnt. Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin beim Schweizer Gesundheitsamt, eine entsprechende Dosis der Substanz zu erhalten. Ihr Antrag wurde zurückgewiesen. Sie focht diese Entscheidung gerichtlich an. Das Schweizer Bundesgericht urteilte in letzter Instanz, dass die Weigerung, der Beschwerdeführerin Sodium Pentobarbital zur Verfügung zu stellen, rechtmässig war.
Es bezog sich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Falle Pretty g Vereinigtes Königreich und führte aus, dass Artikel 8 EMRK keine Pflicht der Staaten mit sich bringen, Bürger zur Selbsttötung in die Lage zu versetzen. Das Schweizer Bundesgericht betonte, dass das Erfordernis eines Rezeptes für Sodium Pentobarbital notwendig war, weil es Bürger vor überhasteten und unüberlegten Entscheidungen schütze.
Die Antragstellerin argumentierte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Vorenthaltung von Sodium Pentobarbital, das ihr einen schmerzlosen Tod ermöglichen würde, ihr Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK verletze.
Nach Schweizer Recht ist Beihilfe zur Selbsttötung nur dann strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts werden Ärzte für die Abgabe von Sodium Pentobarbital nicht strafrechtlich verfolgt, wenn sie bestimmte Regeln einhalten. Diese Regeln leitet das Schweizer Bundesgericht aus den Regeln und Prinzipien ab, die eine Nichtregierungsorganisation veröffentlicht hat. Danach dürfen Ärzte ein Rezept für Sodium Pentobarbital für Patienten ausstellen, die unter einer Krankheit leiden, die nach medizinischer Erfahrung zum Tode führen wird.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfte die Beschwerde im Hinblick auf positive Verpflichtungen, die sich aus Artikel 8 EMRK ergeben. Er betonte, dass das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung ein Prinzip ist, das dem Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK zugrunde liegt.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass das Schweizer Bundesgericht in seinen Entscheidungen auf Richtlinien verwies, die von nichtstaatlichen Akteuren erarbeitet und veröffentlicht worden waren und keinen Gesetzesstatus hatten. Der EGMR führte auch aus, dass diese Richtlinien eine Voraussetzung für die Ausstellung eines Rezeptes aufstellten, für die es keine Grundlage im Schweizer Recht gab – nämlich, dass die Patienten eine tödliche   Krankheit haben mussten. Der Gerichtshof folgerte, dass dies ein Element der Unsicherheit war, das Durchaus geeignet sein könnte, Ärzte von der Ausstellung von Rezepten abzuhalten; tatsächlich hatten zwei Ärzte die Ausstellung eines Rezeptes abgelehnt.
Diese Unsicherheit im Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen Ärzte Rezepte ausstellen konnten war, nach Ansicht des EGMR, dazu angetan, Bürger in einen Zustand der Sorge und Unsicherheit zu versetzen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Der EGMR war der Ansicht, dass die Schweiz ihre  positiven Verpflichtung verletzt hätte, klare Richtlinien für die Abgabe von Sodium Pentobarbital zu erlassen. Er stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Das Urteil besagt allerdings nicht, dass Artikel 8 EMRK ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung beinhaltet.
 
Gross gegen Schweiz, Kammerurteil vom 14.05.2013, Beschwerde Nr. 67810/10
 

 

 

Allgemein Artikel 8 EMRK, Sterbehilfe

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