Einleitung
Artikel 10 EMRK regelt die Äußerungs- und Meinungsfreiheit. Auch wenn die Presse- oder Medienfreiheit in der Norm nicht ausdrücklich genannt wird, ist sie durch Art. 10 ebenfalls geschützt. Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung die zentrale Bedeutung der Äußerungsfreiheit in einer Demokratie und für die persönliche Entfaltung von Menschen.
Wortlaut
Art. 10 EMRK lautet wie folgt:
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
Bedeutung
Der EGMR weist immer wieder darauf hin, dass die Meinungs- und Äußerungsfreiheit sowohl für demokratische Gesellschaften als auch für die Selbstverwirklichung jedes Individuums spielt.
Er Gerichtshof verweist auch häufig auf die große Bedeutung der Presse- und Medienfreiheit. Artikel 10 EMRK nennt den Begriff „Pressefreiheit“ nicht ausdrücklich. Dennoch ist in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt, dass die Vorschrift die Freiheit der Presse und der übrigen Medien schützt. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung immer wieder die zentrale Rolle betont, die Medien in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft spielen. Beispielsweise heißt es im Fall Lingens gegen Österreich:
Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Äußerungsfreiheit, wie sie im 1. Absatz des Art. 10 gewährleistet ist, eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für ihren Fortschritt und für die Selbstverwirklichung jedes Individuums darstellt (….). Diese Grundsätze sind von besonderer Bedeutung, wenn es um die Presse geht. Während die Presse bestimmte Grenzen nicht überschreiten darf, wie sie beispielsweise für den Schutz der Reputation anderer, obliegt es ihr dennoch, Informationen und Ideen zu politischen Fragen zu verbreiten, ebenso wie zu anderen Bereichen des öffentlichen Interesses. Die Presse hat nicht nur die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu verbreiten. Die Öffentlichkeit hat auch das Recht, sie zu erhalten.“
EGMR, Lingens gegen Österreich
Video: Lingens gegen Österreich
Hintergründe zu dem Fall, aus dem dieses Zitat stammt, gibt es in diesem Video
Aus der wichtigen Aufgabe, die Medien bei der Verbreitung von Informationen, der Kanalisierung öffentlicher Debatten aber auch bei der Aufdeckung von Missständen zukommt, hat der EGMR immer wieder einen besonderen Schutz der Medien und ihrer Mitarbeiter hergeleitet. Dabei spricht er von der Rolle der Medien häufig als der eines „öffentlichen Wachhundes“ (public watchdog).
Gleichzeitig betont er aber auch, dass die Tätigkeit von Journalisten mit einer besonderen Verantwortung einhergeht.
Art. 10 Abs. 2 der Konvention sagt jedoch, dass die Äußerungsfreiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die auch auf die Medien Anwendung finden, selbst in Angelegenheiten von großer öffentlicher Bedeutung“
EGMR, Axel Springer AG g. Deutschland, Urteil vom 7.2.2012
Die Pressefreiheit ist also keine Blankovollmacht zur Verbreitung aller Arten von Behauptungen und Informationen. Vielmehr geht der EGMR vom Leitbild eines sorgfältig und verantwortungsvoll arbeitenden Journalisten aus, der anerkannte Standards der Berichterstattung respektiert
Aus Art. 10 EMRK sind nicht nur natürliche Personen berechtigt. Auch juristische Personen oder Personenvereinigungen, Unternehmen oder andere Organisationen können sich auf Art. 10 berufen. Zahlreiche Fälle, die die Rechtsprechung des EGMR zur Meinungsfreiheit geprägt haben, sind auf Beschwerden von Verlagen oder anderen Medienunternehmen zurückgegangen oder betrafen deren Meinungsfreiheit.
Struktur
Prüfung von Eingriffen in die Äußerungsfreiheit
Die Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK ist nicht ohne Einschränkung gewährleistet. Sie kann vielmehr unter den Voraussetzungen die in Art. 10 Abs. 2 niedergelegt sind, beschränkt werden. Für die Äußerung Freiheit gelten hier die gleichen Grundsätze wie für den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK, die Gewissens und Religionsfreiheit nach Art. 10 und die Versammlungsfreiheit nach Art. 11 EMRK.
Eine Beschränkung der Äußerungsfreiheit ist nach Artikel 10 Abs. 2 EMRK rechtmäßig, wenn
- sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht
- sie einem legitimen Ziel dient
- sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist
Aus dieser Struktur ergibt sich das Vorgehen bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 10 EMRK.
Eingriff
Zunächst ist festzustellen, ob eine bestimmte Maßnahme in das Recht auf Äußerungsfreiheit eingreift. Hier geht es also darum, ob ein bestimmtes Verhalten als Äußerung im Sinne von Art. 10 geschützt ist und ob diese Äußerung in irgendeiner Weise beschränkt worden ist. Eine Beschränkung liegt auch dann vor, wenn auf einer Äußerung Sanktionen oder andere negative Folgen wie Schadensersatzpflichten geknüpft werden. In Verfahren vor dem EGMR kommt es immer wieder vor, dass Journalisten aufgrund ihrer Artikel zu Strafen verurteilt worden sind und Regierungen vorbringen, die Äußerungsfreiheit sei nicht beschränkt worden, weil die Journalisten den Artikel schließlich in unveränderter Form wie von Ihnen beabsichtigt hätten veröffentlichen können und die Sanktion erst erfolgt sei, nachdem er erschienen sei. Diese Argumentation weist der EGMR zurück.
Äußerungsfreiheit bedeutet die Freiheit, sich ohne Furcht vor negativen Konsequenzen äußern zu können. Eine Sanktion für eine Äußerung ist daher ein Eingriff in die Äußerungsfreiheit.
Rechtfertigung
Gesetzliche Grundlage
Ist festgestellt, dass ein Eingriff in die Äußerungsfreiheit vorliegt, prüft man in einem zweiten Schritt, ob dieser Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 gerechtfertigt ist.
Die erste Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage. Dies bedeutet zunächst, dass ein Gesetz existieren muss, das den Eingriff vorsieht. Allerdings postuliert der EGMR in ständiger Rechtsprechung Voraussetzungen, die darüber hinausgehen. Die Vorschrift, die die Grundlage für die Beschränkung der Meinungsfreiheit bildet, muss inhaltlichen Anforderungen genügen. Sie muss öffentlich zugänglich und hinreichend klar sein. D. h., dass Individuen zumindest mithilfe rechtlicher Beratung in der Lage sein müssen, vorherzusehen, in welchen Fällen eine Vorschrift zur Anwendung kommen kann. Bezogen auf die Meinungsfreiheit muss also anhand der Vorschrift zu ermitteln sein, bei welchen Äußerungen sie welche Beschränkungen ermöglicht
Wohl gemerkt bedeutet dies nicht, dass Beschränkungen der Meinungsfreiheit auf Grundlage dieser Vorschriften in jedem Fall zulässig sind. Es heißt lediglich, dass diese Normen eine Beschränkung der Meinungsfreiheit grundsätzlich zulassen, sodass eine der Voraussetzungen einer Rechtfertigung erfüllt sind. Es müssen dann darüber hinaus noch die weiteren Voraussetzungen eines legitimen Ziels und der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft gegeben sein.
Legitimes Ziel
Eine Rechtfertigung nach Art. 10 Abs. 2 setzt darüber hinaus voraus, dass der Eingriff einem legitimen Ziel diente. Der Gerichtshof versteht dies eher abstrakt. Er prüft generell nicht, ob die in Rede stehende Beschränkung im konkreten Fall geeignet war, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Vielmehr geht es eher darum ob die Vorschrift, die die Grundlage für die Beschränkung der Meinungsfreiheit bildet, im Allgemeinen auf die Erreichung eines legitimen Ziels abzielen. Das Erfordernis des legitimen Ziels ist daher in der Rechtsprechung des Gerichtshofs selten problematisch.
Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft
Schließlich können Eingriffe in das Recht auf Äußerungsfreiheit nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Dieses Erfordernis steht regelmäßig im Zentrum der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 10 EMRK (denn Fälle, in denen es keinerlei gesetzliche Grundlage für eine Beschränkung gibt sind selten und die Prüfung des legitimen Ziels spielt, wie ausgeführt, in der Praxis nur eine geringe Rolle). Dementsprechend gibt es zur Frage der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft eine umfangreiche und schwer zu überschauende Rechtsprechung.
Strafrechtliche Verfahren
Eingriffe
Strafrechtliche Sanktionen für die Berichterstattung durch Journalisten sind grundsätzlich Eingriffe in das Recht auf Äußerungsfreiheit.
Sie bedürfen daher einer Rechtfertigung. Zu den Beispielen für Eingriffe in die Äußerungsfreiheit aus der Rechtsprechung des EGMR gehören die Verurteilung eines Journalisten für die Aussage in einem Artikel, das Verhalten eines Politikers sei „unmoralisch“, „würdelos“ und „übelster Opportunismus“; die Verurteilung eines Autors, der behauptet hatte, der Präsident der rechtsnationalen französischen Partei „Front National“ sei in einen Mordfall verwickelt; die strafrechtliche Verurteilung eines Journalisten für die Veröffentlichung eines diplomatischen Berichtes, der als „vertraulich“ gekennzeichnet war; die strafrechtliche Verurteilung eines Journalisten wegen der Veröffentlichung eines Fotos des Fraktionsführers einer Partei im Zusammenhang mit der Ankündigung eines Artikels über illegale Aktivitäten, die so verstanden werden konnten, dass der Fraktionsführer illegaler Aktivitäten beschuldigt werde; die Verurteilung von Fotografen wegen einer Verletzung des Urheberrechts durch Verbreitung von Fotografien einer Modenschau; die Verhaftung und Verurteilung eines Journalisten für die Preisgabe geheimer Militärinformationen im Rahmen einer journalistischen Recherche und die Verurteilung eines Journalisten wegen Verleumdung aufgrund eines Artikels, in dem er einem Bürgermeister kriminelle Aktivitäten vorgeworfen hatte.
Ein Eingriff liegt nicht nur dann vor, wenn ein Journalist oder ein Medium für Berichterstattung oder eine Äußerung strafrechtlich belangt wird. Auch andere Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Journalisten stehen, können Eingriffe darstellen. Beispiele für solche Eingriffe sind Beschlagnahmen oder Durchsuchungen. Andererseits ist nicht jede Sanktion, die gegen Journalisten im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit verhängt wird, ein Eingriff in die Äußerungsfreiheit
Im Fall Brambilla und andere gegen Italien hatten Mitarbeiter einer lokalen Online-Zeitung Funkgeräte so eingerichtet, dass sie den Funkverkehr der Polizei abhören konnten. In Italien ist die Installation von Geräten, um die Kommunikation zwischen Angehörigen der Sicherheitsbehörden abzuhören, eine Straftat. Die Beschwerdeführer wurden auf Grundlage der entsprechenden Strafvorschrift verurteilt. Der EGMR drückte erhebliche Zweifel daran aus, ob die Verurteilung in diesem Fall einen Eingriff in die Äußerungsfreiheit darstelle. Er ließ die Frage letztlich aber offen, weil ein eventueller Eingriff jedenfalls gerechtfertigt sei.
Auch die Anordnung von Untersuchungshaft im Zusammenhang mit der journalistischen Tätigkeit kann einen Eingriff in die Äußerungsfreiheit darstellen. Im Fall Sabuncu und andere gegen die Türkei waren die Beschwerdeführer Journalisten der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“. Sie wurden verhaftet und verhört. Dabei wurden sie vor allem gefragt, ob sie im Kontakt mit der PKK oder der Organisation Fethula Gülens stünden und von diesen Organisationen aufgefordert worden seien, ihre Artikel in Einklang mit den Standpunkten dieser Organisationen zu bringen. Die Beschwerdeführer wiesen dies zurück. Sie wurden in Untersuchungshaft genommen, wo sie für einen längeren Zeitraum blieben. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass die Artikel der Beschwerdeführer keine Unterstützung terroristischer Organisationen darstellten; vielmehr hätten die Autoren lediglich ihre Meinung zu Themen kundgetan, die bereits Gegenstand einer öffentlichen Debatte gewesen seien. Der EGMR vertrat auch die Ansicht, die Inhaftierung stelle nicht nur einen Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 5 EMRK dar, sondern auch einen Eingriff in die Pressefreiheit nach Art. 10 EMRK. Die Inhaftierung sei direkt mit der Tätigkeit der Beschwerdeführer als Journalisten verknüpft gewesen. Der Gerichtshof hat diese Grundsätze kurze Zeit später im ähnlich gelagerten Fall Sik gegen die Türkei noch einmal bestätigt.
Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft
Der Schwerpunkt der Prüfung, ob ein Eingriff in die Äußerungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist, liegt regelmäßig auf der Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendigist. Dabei spielen folgend Aspekte häufig eine Rolle:
Zurückhaltung bei strafrechtlicher Verfolgung wegen Äußerungen
Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Behörden grundsätzlich zurückhaltend bei der Initiierung von Strafverfahren aufgrund von Berichterstattung oder Äußerungen sein sollten. Die Verhängung von Gefängnisstrafen kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, beispielsweise in Fällen von Hassrede („hate speech“) oder der Anstiftung zur Gewalt.
Urteile zu Artikel 10 EMRK
In diesem Artikel für die Fachzeitschrift „Kommunikation und Recht“ habe ich einige wichtige Urteile des EGMR zu Art. 10 EMRK zusammengefasst